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Was ist Diakonie? (#10)

Im diakonischen Bereich wird oft erwähnt, dass die Diakonie zwei wichtige Funktionen erbringe, nämlich Dienstleistung und Anwaltschaft – also das Anbieten sozialer Dienstleistungen und das anwaltschaftliche Eintreten für die Rechte Marginalisierter. Doch beschreibt diese Doppelfunktion wirklich hinreichend das Spektrum diakonischen Handelns? Fehlt da nicht was?

Das Funktionen-Doppel von Dientsleistung und Anwaltschaft trifft es in meinen Augen nicht so richtig. Dabei geht es mir gar nicht darum, dass beide Funktionen gerne und oft kritisiert werden – das Erbringen diakonischer Dienstleistungen führt unweigerlich zu der Kritik, dass die Diakonie eh nur das tue, was sie bezahlt bekomme und der Anwaltschaftlichkeit wird vorgeworfen, dass sie vor allem Eigeninteressen des Trägers diene; zudem müsse man fragen, woher eigentlich das Mandat zum anwaltlichen Tätigsein komme, es handele sich viel eher um ein „angemaßtes Mandat“.

Ich finde an dieser Doppelfunktion vor allem schwierig, dass sie de facto zu einem Dualismus wird: einerseits gibt es da die durchökonomisierte Dienstleistungserbringung, andererseits das gesellschaftspolitische „anwaltschaftliche“ Engagement der Diakonie, das gern als die „eigentliche“ diakonische Aufgabe angesehen wird. Die Anwaltsfunktion wird so zu einer Chiffre für all das Gute, Wahre und Schöne der Diakonie – bleibt damit allerdings auch diffus. Die (gesellschafts-)politische Funktion der Diakonie ist aber breiter und facettenreicher, als es der Begriff „Anwaltschaftlichkeit“ hergibt.

Anwaltschaftlichkeit muss daher meines Erachtens präzisiert werden. Zum einen spreche ich lieber von Interessenvertretung, das kommt mit etwas weniger Pathos daher. Und zum anderen braucht es über das Eintreten für die Interessen bestimmter Gruppen hinaus auch noch eine gesamtgesellschaftliche Funktion: das Bemühen um eine solidarische und gerechte Gesellschaft im Ganzen. Daher gefällt mir auch die Trias gut, die die Caritas immer wieder nutzt, um ihr Selbstverständnis zu beschreiben: Dienstleister, Anwalt und Solidaritätsstifter.

Die Solidaritätsstiftung explizit als dritte Funktion zu bennen, finde ich sehr einleuchtend. Zum einen schon allein deshalb, weil Dreiermodelle grundsätzlich mehr Eleganz haben als Zweiermodelle (bzw. de facto-Dualismen). Zum anderen aber auch, weil es eben einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Anwaltschaftlichkeit/Interessenvertretung und Solidaritätsstiftung gibt. Er liegt in dem, worauf sich diese beiden Funktionen beziehen: Bei Anwaltschaft/Interessenvertretung geht es immer um die Durchsetzung von Partikularinteressen, bei der Solidaritätsstiftung um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es sind zwei verschiedene Bezugspunkte.

Doch in meinen Augen fehlt da immer noch etwas. Es gibt es noch eine weitere, vierte Funktion, die bisher in der Reflexion über die Diakonie bisher kaum auftaucht: die Funktion des Gemeinschaftsbilders.

Der Begriff der Gemeinschaft ist manchmal etwas romantisch aufgeladen und gerade in kirchlichen und diakonischen Szenen hat er hin und wieder etwas merkwürdige Konnotationen – mir ist daher eigentlich der englische Begriff der Community etwas lieber, denn es geht um die ganze Breite dessen, was „Community“ sein kann: Gemeinschaften, Gemeinden, Gemeinwesen, aber auch Szenen oder Netze.

Die Funktion des Gemeinschaftsbilders / des Community-Buildings ist noch nicht durch die anderen drei Funktionen abgedeckt. Und in meinen Augen ist sie auch gerade für die Diakonie wesentlich. Die Diakonie hat eben auch die Funktion, zu verbinden und zu vernetzen, Sozialkapital aufzubauen und Zugehörigkeiten zu ermöglichen. Es geht um angemessene und gelingende Formen von Vergemeinschaftung, es geht darum, „Communities“ (mit) zu ermöglichen, (mit) zu pflegen, und (mit) zu entwickeln. Die Zugehörigkeiten zu „Communities“ und das Eingebundensein in ihnen ist eben nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern hat einen Wert in sich – sowohl für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft im Ganzen.

Interessant finde ich, dass ich auf die Funktion des Communty-Buildungs ja bereits in der Bratislava-Erklärung gestoßen bin (…wenn ich es recht sehe, ist diese auf osteuropäischen Erfahrungen aufbauende Erklärung bei uns völlig unbekannt – was schade ist!). Und in einem Blogbeitrag von Brigitte Reiser habe ich den Hinweis auf eine etwas anders formulierte Funktionen-Trias von Nonprofitorganisationen gefunden, die ebenfalls die Community-Dimension als grundlegend ansieht. Auch in Reisers erweitertem Modell (sie führt Beteiligung/Partizipation als vierte Dimension ein), bleibt die Community-Funktion selbstverständlich bestehen.

Gerade für die Diakonie ist die Gemeinschaftsfunktion im Grunde nicht neu (man denke nur an die Anstalten, Häuser und Wohngruppen, an Kommunitäten, Basisgemeinschaften und diakonische Gemeinschaften, aber auch an das (zaghafte) Experimentieren mit Genossenschaften. Als das war schon immer nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Grundanliegen der Diakonie, deshalb erstaunt es mich ein wenig, dass ein Community-Buildung bisher nicht als eigenständige Grundfunktion von Diakonie diskutiert wird.

Man könnte auch einmal darüber nachdenken, ob nicht gerade die konfessionellen Wohlfartsverbände ein besonderes Interesse an der Community-Funktion haben müssten. Zum einen ist das Christentum keine individuelle Erlösungsreligion, sondern eine auf Gemeinschaft angelegte Religion, und zum anderen ist die ganze Kirchen- und Diakoniegeschichte ja voll von Erfahrungen und Experimenten mit Sozialformen – erfolgreichen und gescheiterten.

tl;dr
Diakonie ist nicht nur Dienstleister, Anwalt und (nicht zu vergessen!) Solidaritätsstifter, sondern auch Gemeinschaftsbilder.

Was ist Diakonie? (#9)

Ein weiterer Impuls, um zu beschreiben, was Diakonie im Kern ausmacht: Ich bin auf eine Formulierung von Gerhard K. Schäfer gestoßen, die ich so vorher noch nicht gehört habe und die mir sehr gefällt. Es geht dabei ums (Gemeinde-)Wachstum – aber etwas gegen den Strich gebürstet.

In der evangelischen Kirche wird seit einigen Jahren gerne von „wachsenden Gemeinden“ gesprochen, auch die Wendung „Wachsen gegen den Trend“ ist recht beliebt. Ein Grund dafür ist sicherlich die gleichnamige Studie von Wilfried Härle, in der Härle und Mitarbeiter/innen Gemeinden untersuchen, „mit denen es aufwärts geht“ (so der Untertitel). Nach der Lektüre das Bandes drängt sich der Schluss auf, dass hauptsächlich die mehr oder weniger gut bürgerlichen Mittelschichtsgemeinden Wachstumspotenzial haben (sollte man sich also hierauf konzentrieren und sich lieber gleich von armutsorientierter Gemeindearbeit verabschieden, die zudem auch noch „Unruhe“ ins Gemeindeleben bringt?). Gerhard K. Schäfer kommt zu dem Schluss, dass der Band in diakonischer Hinsicht „ziemlich ernüchternd“ sei.

Und er führt weiter aus:

„Diakonische Initiativen scheinen nicht dazu zu führen, dass Gemeinden gegen den Trend wachsen und dass es mit ihnen aufwärts geht. Vielleicht geht es aber auch bei diakonischen Prozessen nicht primär darum, gegen den Trend zu wachsen. Und durch Diakonie geht es in der Tat nicht in erster Linie aufwärts, sondern seitwärts, zu den Rändern, und in einem qualifizierten Sinne nach unten. Aber gerade so eröffnen sich Perspektiven auftragsorientierter Gemeindearbeit.“ (Gerhard K. Schäfer, Pilotprojekt: GemeindeSchwester. Gesichtspunkte und Impulse,  Fachtag Gemeindeschwester, Manuskript, 26.05.2012, S. 6).

Also seitwärts wachsen. Zu den Rändern hin wachsen. Das kann durchaus zu mehr „Tiefe“ im Gemeindeleben führen – auch so könnte man vielleicht ein „qualifiziertes nach unten Wachsen“ verstehen. Das klingt erstmal nach Sprachspielereien, aber das ist es nicht nur. Denn ich höre immer wieder von Menschen aus diakonisch engagierten Gemeinden, dass das Gemeindeleben intensiver wurde, wenn man sich auf Armuts- und Marginalisierungserfahrungen einlässt.

Was ist Diakonie? Seitwärts wachsen. Zu den Rändern hin.

Ich finde das nicht nur eine schöne Formulierung, es kann auch einen neuen Horizont eröffnen.

Was ist Diakonie? (#8)

Also, ein bisschen skurril ist das Video ja schon. Aber irgendwie gefällt es mir auch. Es geht darum, was denn eigentlich „Diakonie“ bedeutet. Und so etwas muss hier natürlich gepostet werden!

Schöne Antworten. Und auch den Kern getroffen: Der Begriff Diakonie erschließt sich für viele Menschen nicht so recht. Natürlich nicht unter den Bloglesern hier, aber grundsätzlich.

Über zwei Aspekte lohnt es sich, nachzudenken.

Zunächst einmal: Der Begriff Diakonie ist verhältnismäßig unbekannt. Im Jahr 2006 (aktuellere Zahlen habe ich leider nicht), hat nur ein Zehntel der Deutschen auf die Frage, welche Wohlfahrstverbände es gibt, die Diakonie genannt. Es ging dabei um die „ungestützte Bekanntheit“, d.h. es wurden keine  Auswahlmöglichkeiten vorgegeben. Die katholische Schwesterorganisation kann die dreifache Bekanntheit für sich verbuchen, das Deutsche Rote Kreuz kennt jeder zweite – Spitzenwerte! (Quelle: Bekanntheit und Image der Diakonie, Diakonie Texte 13/2006). – Nun gut, man kann entgegenhalten, dass Bekanntheit noch kein Wert an und für sich ist (ein Fundraiser würde das sicherlich anders sehen). Es geht um gute fachliche Arbeit, es geht um christliche Werte. Deshalb finde ich die deutlich geringere Bekanntheit gegenüber der Caritas zwar sehr bedauerlich – grundsätzlich aber undramatisch.

Zum Zweiten: Auch in diesem Video zeigt sich wieder, dass der Begriff Diakonie zwei verschiedene Sachen bezeichnet: nämlich einerseits die Diakonie als Verband (bzw. als Einrichtung), andererseits Diakonie als christliches Konzept. Beim einen geht’s um Organisationen, beim anderen um Theologie. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob diese Doppelnutzung des Begriffs eher ein Vor- oder eher ein Nachteil ist. In Frankreich wird beispielsweise der Diakonie-Verband Fédération de l’Entraide Protestante genannt, la diaconie ist der theologische (und recht unbekannte) Fachbegriff. Im Englischen spricht man von „christian social services“, diaconia kommt so gut wie nicht vor. Auch in Deutschland war Diakonie zunächst der theologische Fachbegriff. Erst als sich die beiden evangelischen Verbände „Evangelisches Hilfswerk“ und „Innere Mission“ zum „Diakonischen Werk“ zusammengeschlossen hatten, erhielt der Begriff „Diakonie“ Einzug in die breite Öffentlichkeit.

Mir ist es wichtig, Diakonie in erster Linie als theolgischen Begriff zu verstehen. Denn wenn Diakonie ausschließlich mit Verbänden und Unternehmen assoziiert wird, erschwert dies den Zugang zu dem, was die diakonische Dimension der Kirche inhaltlich ausmacht. Deshalb finde ich es auch nicht ungeschickt, wie (zunehmend) auf katholischer Seite verfahren wird: Diakonie bezeichnet das theologische Konzept, Caritas den Verband.

Zurück zum Video: Ich weiß nicht genau, woher es stammt und wer dahinter steckt, aber 2:04 gibt zumindest einen Hinweis. Also: Viele Grüße nach Hagen! (?)

Diakonische Evolution

1971 erschien von Gerhard Noske „Die beiden Wurzeln der Diakonie“ (nur noch antiquarisch erhältlich). Noske beschreibt darin zwei Quellen, aus denen sich diakonisches Handeln speist. Oder um im Bild Noskes zu bleiben: Diakonie lebt aus dem Zusammenwirken „zweier weitverästelter Wurzeln“. Der eine Wurzelstrang ist der menschliche Hilfstrieb, der andere die Hilfe im Kraftbereich des Christusglaubens. Auch wenn für Noske Letzteres das „spezifische Wesensmerkmal“ der Diakonie ist, stellt er doch klar, dass Diakonie aus dem Zusammenwirken beider Wurzeln erwächst.

So Manches an Noskes Ausführungen wirkt heute etwas befremdlich, das Besondere ist aber, dass Noske eben von zwei Wurzeln ausgeht, dass er neben christologischen Begründungen auch schöpfungstheologische Motive heranzieht. Die Begründung des Selbstverständnisses der Diakonie begann sich zu wandeln bzw. zu erweitern. Heute rücken schöpfungstheologische Reflexionen wesentlich stärker in den Vordergrund, zuletzt noch einmal sehr deutlich von Heinz Rüegger und Christoph Sigrist herausgearbeitet.

In dieser Argumentation kommt man dann über kurz oder lang zu der Frage, ob der Mensch grundsätzlich ein sorgendes und pflegendes Wesen ist, also bereits in seinem Bauplan ein “diakonischer” Trieb angelegt ist, oder ob Zuwendung über die pure Arterhaltung hinaus immer nur ein Phänomen in bestimmten historischen und situativen Nischen gewesen ist.

Anders gefragt: Ist “Diakonie” – nicht als Organisation sondern als Handlungsmotiv verstanden – ein konstitutiver Zug des Menschseins oder ist sie eher so etwas wie dessen Gegenprogramm, weil der Mensch grundsätzlich egoistisch angelegt ist? Michael Blume sieht durch die Evolutionsforschung eindeutig die erstere These bestätigt:

“Auch evolutionswissenschaftlich halte ich den Sozialdarwinismus für schlichtweg falsch. Der Mensch wurde, wie schon Darwin zu Recht erkannte, gerade in seiner Evolution zum “sozialen Tier” und konnte sich nur so – in vertrauensvoller Gemeinschaft – zu einem (einigermaßen) intelligenten Lebewesen mit langer Kindheit und also gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln. Ohne mitmenschliche Diakonie (wörtlich: Dienst), ohne Caritas (wörtlich: Nächstenliebe) hätte sich auch kein Homo sapiens sapiens entwickeln können.”

Der Natur des Glaubens-Blogger hat für das gerade erschienene Buch Geistesgegenwärtig pflegen (herausgegeben von Johannes Stockmeier, Astrid Giebel und Heike Lubatsch), einen Artikel zur “Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen” beigesteuert. Dort kommt er zu dem Schluss:

“Die sich immer deutlicher abzeichnende Antwort der modernen Evolutionsforschung hat in sehr direkter Weise mit Erfahrungen der Diakonie zu tun: Es ist das Zeugnis der glaubwürdigen Tat, im evolutionsbiologischen Jargon das “Glaubwürdigkeit steigernde” oder auch einfach “ehrliche Signal” [H. Jospeh 2009]. Menschen schließen sich häufiger den Gemeinschaften an, in denen ein Zusammenhang zwischen gepredigten Ansprüchen und Taten hin zu Verbindlichkeit, Gegegnseitigkeit und, ja, Liebe erkennbar ist. […] Und evolutionär ist das mehr als schlüssig, schließlich gehen wir alle auf Vorfahren zurück, die über viele tausende Generationen hinweg ausreichend richtige Entscheidungen getroffen haben. […] Ja, mit Egoismus, Aggression und Betrug haben Menschen zu kämpfen, noch bevor sie Menschen wurden. Aber nur jene, denen es dennoch immer wieder gelang, auch lebensförderliche Gemeinschaften zu errichten und zu erhalten, gehören zu unseren Vorfahren” (Michael Blume 2012; S. 288, 288, 289).

Diakonie – in einem recht weiten Verständnis – hat den Menschen erst zu dem werden lassen, was er ist. Gerade die Sorge auch für diejenigen Menschen, die für Clan, Sippe oder Kollektiv streng genommen gar keinen Nutzen mehr aufwiesen (wie z.B. alte Kranke), wird wohl ein Grund gewesen sein, sich eben zu diesen Gemeinschaften zu halten. Und von Menschen aus diesen Gemeinschaften stammen wir ab.

Evolutionswissenschaftlich gesehen ist Diakonie in uns angelegt (ob wir dies als Diakonie interpretieren und dann auch so benennen, ist noch einmal eine andere Frage). Ich muss gestehen: Das gefällt mir.

Michael Blume: Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen, in: Stockmeier/Giebel/Lubatsch (Hg.): Geistesgegenwärtig pflegen, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2012, 283-293. Michael Blume stellt seinen Artikel auch als PDF zur Verfügung.

Diakonie als soziale Bewegung?

Mario Junglas, Direktor des Berlines Büros des Deutschen Caritaverbandes, hat einen inspirierenden Artikel zur Entwicklung der Caritas geschrieben. Die Caritas muss mehr Zivilgesellschaft wagen ist der Titel, erschienen ist er im neue caritas-Jahrbuch 2012. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber der Artikel ist schon fast ein kleines Manifest. Und er gilt ohne Abstriche genauso für die Diakonie. Deshalb kann man ohne Weiteres auch immer Diakonie denken, wenn Junglas von Caritas spricht. Und weil der Artikel nicht online verfügbar ist, zitiere ich mal etwas ausführlicher. (UPDATE 2012-04-22: mittlerweile doch online)

Junglas‘ Anliegen ist es, die Caritas stärker als eine soziale Bewegung zu verstehen:

„Für die Caritas der Kirche genügte es lange, als Verein oder Gruppe, als Einrichtung und Dienst antreffbar zu sein. Das ist nicht vorbei, reicht aber nicht mehr aus. Caritas muss soziale Bewegung sein“ (S. 77).

Die Diakonie und die Caritas sehen sich ja immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, aufgrund der öffentlichen Refinanzierung eher ein unselbständiger Teil des Sozialstaats zu sein als ein autonomer Akteur. Und ein anderer, aber ähnlich gelagerter Vorwurf besagt, dass Caritas- und Diakonie-Einrichtungen durch ihre Ausrichtung als Unternehmen eher Teil des Marktes sind. Beiden Vorwürfen ist gemeinsam, dass die konfessionellen Verbände und Einrichtungen gar nicht in dem Maße Zivilgesellschaft sind, wie sie es immer wieder gerne betonen.

„Gerade die kritisierte Staatsnähe und Marktnähe machen aber die Rolle der Caritas als zivilgesellschaftlichen Akteur fragwürdig, trotz der vielen Ehrenamtlichen. Für viele ist die Caritas kein kreativ herausforderndes Gegenüber zu Staat und Wirtschaft, sondern selbst Teil dieser Ordnungen“ (S. 78).

Man könnte nun einfach sagen: Ja, und? Es ist doch eine Menge wert, dass Diakonie und Caritas leistungsstarke Träger (Unternehmen) und gefragte Sozialexperten (Verbände) sind. Dass stimmt und steht auch gar nicht zur Disposition. Denn Verbands- und Trägeraufgabe haben natürlich Vorteile…:

„Die Caritas ist hochverlässlich. Das ist ein Trumpf sowohl bei der Leistungserbringung als auch in der politischen Debatte und in der Lobbyarbeit. Mit der Verlässlichkeit korrespondiert zugleich eine hohe Berechenbarkeit. Von der Caritas sind in der Regel keine Überraschungen zu erwarten. Man kann sich nicht nur auf sie verlassen, man kann sie einkalkulieren.“

… aber auch Nachteile:

„Das kann uninteressant machen für andere innovative, veränderungswillige gesellschaftliche Kräfte und kann die Versuchung schüren, die Caritas einzurechnen ohne sie einzubeziehen. Als Bewegung kann die Caritas verlässlich bleiben, ohne vollständig berechenbar zu sein, weil sie das enge Korsett verbandlichen und unternehmerischen Handelns durch überraschende und herausfordernde Formen und Inhalte sprengt“ (S. 81).

Denn:

Die Caritas „muss auch noch politisch handlungsfähig sein, wenn Expertentum nicht gefragt oder inopportun ist und klassische Lobbyarbeit an ihre Grenzen kommt“ (S. 78).

Mario Junglas möchte in der Caritas also das Bewusstsein stärken, sich deutlicher als soziale Bewegung zu verstehen – das ist gemeint, wenn es im Titel seines Beitrags heißt: „Mehr Zivilgesellschaft wagen“. Aber es geht nicht nur darum, sich als Bewegung zu verstehen, sondern auch die Strukturen der Caritas dementsprechend neu auszurichten. Dabei soll die Handlungslogik der Bewegung nun nicht die beiden anderen Handlungslogiken verdrängen, sondern ergänzen. Die Caritas ist Kirche – und nutzt dazu eben die ganz verschiedenen Handlungs- und Kommunikationsformen einer Institution (Verband), einer Organisation (Unternehmen oder Einrichtung) und einer Bewegung (Zivilgesellschaft). Caritas und Diakonie erweitern also ihre Handlungs-, Kommunikations- und Mitwirkungsformen, wenn sie sich Logik und Instrumentarium sozialer Bewegungen öffnen.

Wirft man einen Blick in die Leitbilder von Diakonie (DW-EKD) und Caritas (DCV), kann man eine wundersame Entdeckung machen. Der katholische Verband betont ausdrücklich sein Verständnis als soziale Bewegung, bei dem evangelischen Verband ist dieser Gedanke nicht ganz so deutlich ausgeprägt. Man hätte es ja gerade anders herum erwarten können…

Im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes heißt es im Abschnitt zum Organisationsprofil:

„(16) Der Deutsche Caritasverband ist Teil der Sozialbewegung. (…) (19) Er unterstützt den ehrenamtlichen caritativen Einsatz in Pfarrgemeinden, Verbänden, Gruppen und Initiativen. (…) (21) Er fördert die Idee einer Sozialbewegung und arbeitet mit sozial engagierten Menschen, Initiativen und Organisationen zusammen an der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft“ (Leitbild Caritas, Abschnitt III).

Eine vergleichbare Aussage im Leitbild Diakonie lautet:

„Durch unsere Arbeit in den Kirchengemeinden, Diensten und Einrichtungen sind wir Menschen nahe. Selbsthilfegruppen und Initiativen finden bei uns ihren Raum.“ (Leibild Diakonie, 6.These).

Darüber hinaus steckt der Gedanke der Sozialbewegung noch in den Erläuterungen zur 4. These („Wir sind aus einer lebendigen Tradition innovativ“) als historische Wurzel und zur 8. These („Wir setzen uns ein für das Leben in der einen Welt“) bezogen auf das ökumenische Engagement der Diakonie. Überspitzt gesagt heißt das: Diakonie ist soziale Bewegung, aber hauptsächlich damals und woanders.

Man muss nun natürlich beachten, dass es sich hierbei lediglich um die papierene Wirklichkeit handelt, die faktische kann noch einmal ganz anders aussehen. Wie steht es mit der Idee der sozialen Bewegung in der Diakonie, unabhängig von vorhandenen oder nicht vorhandenen Leitbildformulierungen? 2006 ist ein Diakonie-Text erschienen mit dem aussagekräftigen Titel: „Kirchliche Soziale Arbeit und soziale Bewegung – eine Nichtbeziehung?“ (Diakonie Texte 12/2006). Diakonie und soziale Bewegung scheinen also eher ein Gegenüber zu sein. Daher geht Franz Segbers genau der richtigen Frage nach, wenn er sich in seinem Vortrag, der der Publikation zugrunde liegt, mit der Diakonie als soziale Bewegung beschäftigt. Segbers These lautet:

„Es reicht nicht aus, die halbierte Modernisierung der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungsfunktion lediglich durch eine Professionalisierung der anwaltschaftlichen Funktion zu überwinden. (…) Erst wenn die Diakonie sich zivilgesellschaftlich definiert, kann sie in angemessener Weise auf die neue Sozialstaatlichkeit reagieren (…) Eine Diakonie, die nicht steckengeblieben ist in einer halbierten Modernisierung, wird zivilgesellschaftliches Engagement mit dem Ziel fördern, demokratische Strukturen zu beleben und Ausschlussprozesse zu verhindern“ (Franz Segbers: Diakonie als soziale Bewegung, Diakonie Texte 12/2006, S. 13, 13, 15).

Aus Mario Junglas‘ Plädoyer kann man zudem schließen, dass es mit der Caritas als soziale Bewegung auch noch nicht so weit sein kann, denn er wirbt schließlich leidenschaftlich dafür, sich dementsprechend neu auszurichten.

„Dass die Caritas (Teil der) soziale(n) Bewegung, „Bewegungsorganisation“ sein soll, ist eine alte, noch einzulösende Forderung ihres Selbstverständnisses. Ohne euphorisch zu sein, kann man feststellen: Die Zeiten waren dafür noch nie so günstig wie heute“ (S. 82).

Wie gesagt: eine lesenswerte Inspiration!

Was ist Diakonie? (#7)

Die Diakonie greift das diesjährige Thema „aktives Altern“ des Europäischen Jahres auf und macht es zu ihrem Jahresthema. Um ganz genau zu sein heißt es: „Europäisches Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“

Das ist jetzt nicht unbedingt poetisch, und so hat der Diakonie-Bundesverband das Thema in eigene Worte gefasst und ist bei „Altern in der Mitte der Gesellschaft“ gelandet. Sprachlich auf jeden Fall ein deutlicher Fortschritt, mir erschließt sich nur nicht ganz, worauf sich die „Mitte“ bezieht.

Aber es gibt noch einen Slogan, der das Jahr begleiten wird und es inhaltlich auf den Punkt bringt: „Aus dem Leben schöpfen. Für mich und für andere“

Das ist doch mal ein richtig guter Slogan. Drei kurze Anmerkungen dazu:

Meine erste Assoziation war „aus dem Vollen schöpfen“. Steht da aber nicht, es heißt: „aus dem Leben schöpfen“. Aber natürlich schwingt „aus dem Vollen“ mit – das ist geschickt. Diakonie operiert oft in der Logik des Mangels (verständlicher Weise), so etwas wie Fülle kommt eher selten vor.

Dann das Wort „schöpfen“. Erst einmal ist das  (Ab)Schöpfen gemeint, wie man mit einem Gefäß im Brunnen Wasser schöpft. Hier wird aus dem Leben geschöpft, wohl vor allem aus den Erfahrungen des eigenen Lebens. Gleichzeitig ist Schöpfen natürlich nah am Erschaffen („Schöpfung“). Ich bediene mich nicht nur einer Ressource meines bisher gelebten Lebens und setze sie ein (das wäre ein recht technisches Verständnis), sondern ich schöpfe etwas: ich schaffe, ich erschaffe.

Und drittens klingt dieses „für mich und für andere“ recht unverkrampft. Ich höre da nicht sofort den moralischen Appell heraus. Es geht um zwei Seiten: es geht um mich und es geht um andere. In der Diakonie hat man manchmal einen Teil etwas überbetont. Beide Seiten des Engagements werden genannt. Das ist gut.

Und warum poste ich diesen Beitrag in meiner kleinen Was ist Diakonie-Reihe? Weil dieses Motto nicht nur etwas mit „aktivem Altern“ zu tun hat. Im Grunde ist das eine Umschreibung für diakonisches Tun generell, wenn auch mit einem speziellen Zugang.

Was ist Diakonie? Aus dem Leben schöpfen. Für mich und für andere.

Schön.

Was ist Diakonie? (#6)

„Was ist die Diakonie?“, so der Titel eines neuen Videos des Diakonie-Bundesverbands zum Selbstverständnis der Diakonie.

Ich gebe zu, dass ich nach dem pathosschwelgenden letzten Diakonie-Video, einem preisgekrönten Fernsehspot, etwas skeptisch war (mein Kommentar dazu hier). Aber dies ist ein gut gemachtes Video. Es kommt recht unaufgeregt daher, läuft nicht in die Falle der Betroffenheitsheischerei, die angedeuteten Hilfeverständnisse – wie begleiten, unterstützen, da sein – sind angemessen und die Menschen, die ihre Statements abgeben, kommen gut rüber. Etwas schade finde ich allerdings, dass zu Beginn des Beitrags die gesellschaftspolitische Dimension der Diakonie zwar genannt wird (auch die Ursachen der Not zu beheben), im Video dann aber gar nicht zu entdecken ist.

Aber zurück zum Titel der Videos: Was ist denn nun Diakonie? Der Beitrag bietet zwei programmatische Sätze zu eben dieser Frage.

Der eine lautet:

„Diakonie ist gelebte Nächstenliebe“ (Statement Stockmeier und Schlusssatz)

Und der andere:

„Diakonie ist die Soziale Arbeit der evangelischen Kirche“ (2’00)

Interessant ist, dass diese beiden Sätze auch programmatisch für die beiden historischen Strömungen der organisierten Diakonie in Deutschland stehen, nämlich der Inneren Mission und dem Evangelischen Hilfswerk (ganz, ganz kurz hier). Das Diakonieverständnis der Inneren Mission setzte bei theologischen Begründungen deutlich auf die Frömmigkeit (dazu passt „gelebte Nächstenliebe“), das Hilfswerk legitimierte sich theologisch über seine Kirchlichkeit. Ich weiß nicht, ob hier bewusst eine historische Anspielung liegen soll, ich vermute es aber eher nicht. Aber es ist trotzdem interessant, wie der Beitrag mit diesen beiden Programm-Aussagen umgeht: „Gelebte Nächstenliebe“ wird in den Vordergrund gestellt, „Soziale Arbeit der Kirche“ wird lediglich einmal genannt.

Das Problem diakonie-theologischer Begründungen via Nächstenliebe ist meines Erachtens, dass Nächstenliebe ohne weitere Einbettung, Abgrenzung und Zuspitzung letztlich ein Alles-und-Nichts-Begriff ist. Ich weiß nicht, ob er wirklich etwas (er)klärt. Ich frage mich auch, ob dies tatsächlich der Wirklichkeit diakonischer Einrichtungen entspricht (sprich: Ist Nächstenliebe wirklich der zentrale Beweggrund der gegenwärtigen Diakonie?), aber das ist Ansichtssache. Zudem: Es geht um das Selbstverständis der Diakonie, also um eine normative Zuspitzung, nicht um eine Selbstbeschreibung. Und ein dreiminütiges Video ist kein theologisches Seminar. Hier steht vielmehr eine positiv besetzte Botschaft im Vordergrund.

Das zweite Identitätsstatement „Diakonie ist die soziale Arbeit der Kirche“ klingt wesentlich nüchterner. Auch hier mag es kritische Stimmen geben, nämlich dass es nur eine funktionale Zuordnung beschreibt (= soziale Arbeit der Kirche) und keine inhaltliche Aussage trifft. Aber in meinen Augen ist der Satz gut, gerade weil er einfach ist. Es ist auch der Satz, der neuerdings immer wieder auf Plakaten und in Broschüren des Diakonie-Bundesverbandes genutzt wird, quasi als „Kurz-und-knapp-Definition“. Außerdem eröffnet er die Möglichkeit, genauer nachzufragen: Was ist denn eigentlich „sozial“, „evangelisch“ oder „Kirche“? Vor diesem Hintergrund ist es allerdings schade, dass dieser Satz im Beitrag genannt wird, Kirche aber faktisch nicht vorkommt.

Was ist Diakonie? (#5)

Weiter geht’s mit der Frage, was „Diakonie“ inhaltlich bedeutet…: In einem Text von Ulf Liedke habe ich folgenden Satz gefunden, der mir sehr gefällt: „Diakonie ist die Leidenschaft für die Möglichkeiten, die Menschen in sich tragen.“ Hier das Zitat im Zusammenhang:

„Von Kierkegaard stammt der Satz ‚Hoffnung ist die Leidenschaft für das Mögliche‘. Frei übersetzt: Diakonie ist die Leidenschaft für die Möglichkeiten, die Menschen in sich tragen: für die ungenutzten Ressourcen und verbliebenen Stärken, für die entwickelbaren Kräfte und die förderbare Selbstbestimmung. Statt ‚Stark für die Schwachen‘ sollte es deshalb lauten: ‚Stärken haben alle’“ (Ulf Liedke: Diakonisches Profil in der Leistungsgesellschaft – Welche Ethik brauchen wir?, Studientexte aus der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden, 02/2002, S. 5).

Oder anders gesagt: Entdecke die Möglichkeiten (die du in dir hast). Und Aufgabe der Diakonie ist es dann, bei diesem Entdecken zu unterstützen, leidenschaftlich.

Hier steckt theologisch einiges drin. Aufgabe des Menschen ist es, seine Begabungen fruchtbar werden zu lassen und einzustezen, zum eigenen Wohl und zum Wohle aller. Damit dies überhaupt möglich ist, muss ich mir meiner Begabung aber erst einmal bewusst sein. Mit anderen Worten: Ich muss auf die Suche gehen nach dem, wozu ich berufen bin. Die Aufgabe des Menschen ist es, seine eigene Berufung zu erkennen und die eigenen Begabungen zu entwickeln und einzubringen (siehe hier zum Beispiel die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“, Gütersloh 2006, S. 11). Dabei zu unterstützen, ist die Aufgabe der Diakonie.

So einfach und schlicht das auch klingen mag, solche „Definitionen“ von Diakonie finde ich gehaltvoll. Denn sie setzen bei der „eigentlichen“ Aufgabe von Diakonie an: Berufung erkennen, eigene Möglichkeiten entdecken, Begabungen nicht verkümmern lassen und weiterentwickeln, sich selbst in dieser Welt einbringen (wenn man denn der Auffasung ist, dass dies die Aufgabe von Diakonie ist). All das, was Diakonie macht, von konkreten Dienstleistungen bis zur gesellschaftspolitischen Einflussnahme (siehe auch hier), macht sie aus Leidenschaft für die Möglichkeiten, die in den Menschen drinstecken.

Und weil es eben schon einmal so nach IKEA klang (Entdecke die Möglichkeiten…), mache ich noch eine schwedische Anleihe und formuliere die Frage: Hilfst du noch, oder entdeckst du schon?

Was ist Diakonie? (#4)

Welche Aufgaben oder Funktionen hat Diakonie? Im Konkreten ist das oft sehr einfach zu benennen (oder anders gesagt: Im Konkreten stellt sich diese Frage meist gar nicht). Will man dies aber etwas allgemeiner beschreiben, wird es schon schwieriger. Zumindest wenn man es nicht bei solch platten Aussagen wie „Diakonie ist christliche Zuwendung“ oder „Diakonie ist Helfen“ belassen will (die übrigens auch gar nicht so recht stimmen).

Oft hört man, Diakonie will konkrete Not lindern und die Ursachen der Not bekämpfen. Solch eine grundsätzlichere Bestimmung diakonischer Aufgaben geht in die richtige Richtung, trotzdem suche ich immer noch nach einer etwas umfassenderen Systematik. Erstaunlicher Weise gibt es recht wenig Ansätze, die in diesem Sinne etwas anzubieten haben.

Die Bratislava Declaration on Diaconia and Social Exclusion beschreibt fünf diakonische Aufgaben:

„Diaconia works to:

– serve people in their daily life as they face life crises and material or spiritual needs and to provide quality social and other services. Diaconia bases its work on the participation and empowerment of those it serves
– create a culture based on sharing, respect for diversity and participation
– build human community whilst respecting the human dignity of every person as made in the image of God
– take action in favour of justice and an end to oppression, with and on behalf of people in situations of economic, social injustice or otherwise in distress
– shape political and economic priorities and to create, with others, an active democracy which respects all dimensions of human rights“ (S. 2-3).

Diakonie hat demnach fünf Aufgaben: Diakonie bietet soziale Unterstützungsangebote, Diakonie gestaltet eine von Teilen, Vielfalt und Beteiligung geprägte Kultur, Diakonie schafft Gemeinscht, Diakonie greift ein/klagt an bei Ungerechtigkeit und Diakonie will Einfluss nehmen auf politische und wirtschaftliche Prozesse.

Um noch etwas grundsätzlicher zu werden: Aus diesen Aufgaben könnte man auch grundlegende Funktionen der Diakonie ableiten. Die Funktion der Diakonie wäre dann fünf-dimensional:

  • Dienstleistungsdimension
  • kulturelle Dimension
  • gemeinschaftliche/gemeinschaftsbildende Dimension
  • aktivierende/interessenvertretende Dimension (evtl. auch im Sinne von advocacy?)
  • (gesellschafts-) politische Dimension (evtl. auch im Sinne von lobbying?)

An den Begriffen kann man vielleicht noch etwas feilen, aber in meinen Augen ist dies eine wirklich differenzierte und auch recht umfassende Beschreibung, welche Funktion Diakonie hat. Eine einzelne diakonische Einrichtung muss nicht im gleichem Maße diese fünf Dimensionen abdecken, aber sie sollte sich zumindest daran orientieren.

Die Bratislava-Erklärung gibt es auch auf tschechisch, ungarisch, rumänisch und polnisch. In der Diaconia ist sie ebenfalls auf englisch abgedruckt. Und sie ist nicht zu verwechseln mit der Bratislava-Erklärung der Konferenz Europäischer Kirchen!

Was ist Diakonie? (#3)

Wieder ein kleiner Impuls zu der Frage: Was macht das Diakonische aus? Diesmal beziehe ich mich auf einen Aufsatz von Fritz Lienhard: „Armut und Diakonie im Lichte des Kreuzes“. Lienhard entfaltet Diakonie anhand drei zentraler Begriffe: Demut, Gemeinschaft, Sachlichkeit.

„Wir werden Diakonie hier nicht vorzüglich als Institution oder als konkretes Handeln verstehen, sondern als Haltung, die mit dem Umgang mit der Armut verbunden ist. Es geht um drei Kennzeichen, die ich biblisch bedenken will: angenommene Schwäche, gemeinschaftliche Dimension und Sachlichkeit“ (S. 205).

Demut. Die diakonia meint nicht Wohltätigkeit als eine Tat, sondern beschreibt eine Haltung. In Lk 22, 24-27 wird „Wohltäter sein“ gar mit „herrschen“ in Beziehung gebracht. Dem gegenüber steht die Haltung der Demut. Es geht dabei nicht um pathologische Selbsterniedrigung und schon gar nicht um einen Demutswettbewerb, es geht um den Umgang mit der eigenen Schwäche. Ziel ist das Wahrnehmen der eigenen Menschlichkeit.

„Die wahre Demut besteht […] in dem Annehmen der eigenen Gebrechlichkeit, wie sie durch das Kreuz ermöglicht wird. Sie ist Bedingung für echte Diakonie“ (S. 206).

Gemeinschaft. Als zweites grundlegendes Motiv nennt Lienhard die Gemeinschaft. Gemeint ist wiederum die damit verbundene Haltung (und keine Organisationsform):

„Gemeinschaft in der Hilfe heißt, dass der Helfende nicht alleine dasteht, und das gemeinsam geholfen werden muss. Das gilt erst recht für die Ausgrenzung, die nicht auf dem Weg der Verwaltung überwunden werden kann, sondern nur durch Einführung in eine Gemeinschaft. Aber Gemeinschaft heißt auch Gegenseitigkeit der Hilfe. Würde führt dazu, dass von dem Bedürftigen auch ein Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben erwartet wird“ (S. 207).

Sachlichkeit. Das dritte Kennzeichen zählt sicherlich nicht zu den gängigen Nennungen bei der Frage, was Diakonie ausmacht. Trotzdem ist es ein „klassisches“ Kennzeichen der Diakonie. Auch wenn die Zuwendung zu einem Menschen sicherlich sehr emotional sein kann, ist es doch in erster Linie ein sachliches Handelns. Die Begründung des Handelns liegt nicht in hoch aufgeladenen Religiosität, sondern wird schlicht durch die Not selbst geboten. In Bezug auf Jesu Rede vom Weltgericht (Mt. 25) führt Lienhard aus:

„Dem Text folgend haben die Auserwählten nicht hinsichtlich der Unglücklichen helfend gehandelt, weil sie wussten, dass Chrsitus der wahre Empfänger ihres Handelns war, sondern weil der andere Hilfe bedurfte. Es war ‚Dienst‘, ausschließlich ausgerichtet an der Not des anderen. ‚Dienen‘ ist also eine soteriologisch anspruchslose, sachliche Antwort auf die Bedürfnisse des Mitmenschen“ (S. 208).

Was ist Diakonie? Eine sachliche, gemeinschaftliche und von sich selbst absehende Haltung.

Fritz Lienhard: Armut und Diakonie im Lichte des Kreuzes, in: Eurich/Barth/Baumann/Wegner (Hg.): Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung, Stuttgart 2010, 194-209.

Der Mythos vom Dritten Sektor (Teil 1)

In der Diakonie gibt es einen gern gepflegten Mythos, zu finden in zahlreichen Imagetexten der Diakonie. Er lautet: Die Diakonie ist eine (zivilgesellschaftliche) Dritt-Sektor-Organisation. Ich halte von dieser Behauptung nicht viel, denn sie trägt nicht viel aus.

Es ist meiner Meinung nach fraglich, ob diakonische Einrichtungen tatsächlich so eindeutig zum Dritten Sektor zählen, wie immer wieder gesagt wird. Der Dritte Sektor ist das Sammelbecken für all die klassischen NGOs und NPOs, die nicht zu den Sektoren Staat und Markt zählen, die sich eben jenseits von Markt und Staat bewegen. Doch diese Sektoren sind längst nicht so klar und eindeutig abzugrenzen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und bei kaum einer Organisation wird dies so deutlich wie bei einer diakonischen Einrichtung.

Natürlich sind diakonische Organisationen nicht „der Staat“ und auch nicht „der Markt“, aber sie sind eben doch – durch und durch – staatlich und marktlich organisiert. Wenn diakonische Einrichtungen zu einem großen Teil aus Staatstransfers finanziert werden, bestimmte Gesetzesleistungen umsetzen und teilweise sogar einen Versorgungsauftrag haben, sind sie eben keine vom Staat unabhängigen Organisationen (genau dies ist aber Definitionsbestandteil des Dritten Sektors!). Und weiter: Diakonische Einrichtungen agieren auf dem Sozialmarkt, organisieren sich intern marktwirtschaftlich und treten in gegenseitigen Wettbewerb. Die Diakonie ist daher – in ihrer internen Handlunsglogik, in ihren Abhängigkeiten und sogar in ihrem Selbstverständnis – ein Stück Staat und ein Stück Markt. Sie davon ungeachtet als Organisationen jenseits von Markt und Staat dem Dritten Sektor zuzuordnen, ist schon ein gewagtes Unterfangen.

Es gibt einen Ansatz, der tragfähiger ist und vor allem ertragreichere Reflexionen zulässt. Dieser lässt eindeutige sektorale Zuordnungen hinter sich und geht von hybriden Organisationen aus, die verschiedenen Sphären gleichzeitig angehören. In den Sozialwissenschaften wird zunehmend vom Konzept des Hybrids gebraucht gemacht, Hybrid meint:

„Elemente, die ursprünglich mit einer je unterschiedlichen Sphäre assoziiert wurden, verbinden sich miteinander, und zwar innerhalb einer Organisationsform“ (Evers/Ewert 2010: 103).

Bekannt geworden ist der Begriff Hybrid vor allem im Zusammenhang mit Hybrid-Motoren, also bei Autos, die sowohl Verbrennungs- als auch Elektroantrieb besitzen und zwischen beiden, je nach Bedarf, umschalten können. Wenn man dieses Beispiel auf Organisationen im Sozialbereich überträgt bedeutet das: Es gibt Organisationen, die ein Hybrid aus marktlicher, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Handlungslogik darstellen – der Sektor spielt in dieser Perspektive keine große Rolle mehr.

Adalbert Evers, Professor für Dritt-Sektor- und Zivilgesellschaftsforschung an der Universität Gießen, nutzt diese Sichtwiese, um die Eigenarten des sozialen Bereichs zu beschreiben. Evers bezieht sich dabei nicht ausdrücklich auf diakonische Einrichtungen, für sie gilt dies aber meines Erachtens ganz besonders. Diakonie-Organisationen sind dann keine Dritt-Sektor-Organisationen jenseits von Staat und Markt, sondern hybride Gebilde mit sowohl marktlicher, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Handlungslogik.

Im zweiten Teil dieses Beitrags stelle ich zwei einfache Übungen vor, wie diese (neue?) Sichtweise für die Reflexion des diakonischen Selbstverständis genutzt werden kann. Denn leider beraubt sich die Diakonie der eigenen Reflexionsschärfe, wenn sie dem Mythos der Dritt-Sektor-Organisation zu sehr anhängt. Es ist allerdings ein gern gepflegter Mythos. Und so verstrickt sich die Diakonie auch immer mal wieder in einem Zwei-Fronten-Kampf: Auf der einen Seite kämpft sie gegen „den Staat“, auf der anderen Seite gegen „den Markt“. Die Diakonie hält wacker die Stellung dazwischen – mit all den anderen Guten, die weder Staat noch Markt sind – um so ihren Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Armer Krieger Diakonie.

Doch es macht wenig Sinn, die Diakonie immer a priori dem Dritten Sektor zuzuordnen bzw. sie grundsätzlich als zivilgesellschaftlich ausgerichtete Organisation zu sehen – das ist sie auch, aber eben nicht nur. Die Diakonie ist nicht Greenpeace oder Amnesty, die Diakonie besteht aus lauter marktlich-staatlich-zivilgesellschaftlichen Einrichtungen.

Hier noch ein Literaturhinweis: Adalbert Evers/Benjamn Ewert: Hybride Organisationen im Bereich sozialer Dienste. Ein Konzept, sein Hintergrund und seine Implikationen, in: Thomas Klatezki (Hg.): Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen, Wiesbaden 2010, 103-128. Und wer lieber schnell Weiterlesen möchte, der sei auf einen einige Jahre älteren Artikel von Adalbert Evers verwiesen, in dem sich auch diese Überlegungen finden (auf englisch).

Was ist Diakonie? (#2)

Im Eurodiaconia-Newsletter #76 beschreibt Heather Roy zwei verschiedene Arten von Diakonie, die „Lückenfüller-Diakonie“ und die „Sozialdienstleistungsdiakonie“:

„Was mich vielleicht am meisten beschäftigt hat, war die Frage, ob wir in der Diakonie eine Art „Lückenfüller“ sind, also soziale Dienstleistungen für jene erbringen, die nicht von staatlichen Stellen unterstützt werden, oder, ob wir grundsätzlich Sozialdienstleistungsorganisationen sind, die eine Reihe von Dienstleistungen quer durch das soziale Spektrum erbringen. Offenkundig arbeiten einige unserer Mitglieder mit dem “Lückenfüller”-Ansatz, während andere eher allgemeine Dienstleistungserbringer sind. Keiner der beiden Ansätze ist falsch, beide sind notwendig, und welcher davon zur Anwendung kommt, hängt immer auch von dem Kontext ab, in dem die Mitglieder arbeiten. Das führt uns aber auch wieder zu den noch nicht abgeschlossenen Überlegungen zu den besonderen Merkmalen der Diakonie und wie diese heute zum Ausdruck kommen.“ (Heather Roy, Eurodiaconia-Newsletter #76).

Ja, was ist Diakonie denn nun? Es ist schon merkwürdig, dass über solch eine einfache Frage so gut wie kein Konsens besteht. Natürlich, die vermeintlich einfachen Fragen sind immer die schwierigsten. Die Unterscheidung zieht sich tief hinein ins Mark diakonischer Identitätssuche. Diakonie-Mitarbeiter der Lückenfüllerdiakonie arbeiten mit einem anderen Selbstverständnis als die Dienstleistunsgdiakonie-Mitarbeiter.

Heather Roy hat natürlich recht, dass dies kontextabhängig ist. Aber es drängt sich doch auch irgendwie die Frage auf, ob die Lückenfüller-Diakonie nicht die „eigentliche“, die „richtige“, die „ursprüngliche“ Diakonie ist? Dies kann man auch daran sehen, dass die Frage nach einem möglichen Alleinstellungsmerkmal ausschließlich eine Frage der „Sozialdienstleistungsorganisationen“ ist. Denn in der Lückenfüller-Diakonie ist die Lückenfüllung selbst bereits das Alleinstellungsmerkmal, die Frage stellt sich hier erst gar nicht. Während das Diakonische an der Lückenfüller-Diakonie also schlicht und einfach die Tatsache ist, dass es sie gibt, muss die Dienstleistungs-Diakonie viel stärker begründen, inwiefern sie diakonisch ist.

Allerdings darf man nicht zu dem Schluss kommen, dass die Unterscheidung zwischen Dienstleistungs- und Lückenfüller-Diakonie identisch sei mit der zwischen professionellen und nicht professionellen Arbeitsweisen. Vielmehr geht es hier um die Unterscheidung zwischen refinanzierten und nicht refinanzierten Arbeitsbereichen. Vor längerer Zeit habe  ich mal die Begriffe „Not 1. Klasse“ und „Not 2. Klasse“ gehört (leider habe ich vergessen, von wem das stammt). Das ist natürlich etwas zynisch, aber die Unterscheidung ist nicht falsch. Die „Not 1. Klasse“ ist die refinanzierte Not, also das, worauf diakonische Einrichtungen als „Sozialdienstleistungsorganisationen“ antworten. Für die „Not 2. Klasse“ gibt es dann die „Lückenfüller-Diakonie“.

Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Lückenfüller-Diakonie bzw. der Dienstleistungs-Diakonie und den verschiedenen Organisationsformen der Diakonie (siehe meinen Beitrag Die sieben Diakonien)? Könnte man also einfach sagen, die „Not 1. Klasse“ wird von den Komplexeinrichtungen bearbeitet, die „Not 2. Klasse“ von diakonischen Gemeinden? Auf den ersten Blick mögen einem entsprechende Beispiele einfallen, auf den zweiten Blick merkt man aber schnell, dass diese Zuordnung nicht passt, dass das zu kurz gedacht ist. Allerdings rücken die diakonischen Social Business-Organisationen, wie ich sie als eine der sieben Diakonie-Typen beschrieben habe, noch einmal deutlicher ins Zentrum der Betrachtung. Sie setzen ja gerade bei der „Not 2. Klasse“ an.

Und ein letzter Gedanke: Egal wer sich um Lückenfüller-Ansätze und -Angebote kümmert, wichtig ist, den Ressourcen-Einsatz gut im Blick zu haben. Ich meine jetzt weniger Finanzen und Mitarbeiter, ich meine eher Konzepte und Kräfte. Wenn die gesamte Energie absorbiert wird, ist aus der Lücke ein Schwarzes Loch geworden.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Ab und an muss ich meine Diakonie-Materialsammlung durchsortieren, sonst wächst sie mir über den Kopf. Und beim Aufräumen bin ich nun auf dieses Schätzchen gestoßen:

Dazu lässt sich eine ganze Menge sagen. Vor allem natürlich zum Verhältnis von Selbst- und Nächstenliebe in der Diakonie. Aber das lass‘ ich mal lieber. Stattdessen ein schönes Zitat, das in diesem Zusammenhang noch eine ganz andere Facette hervorhebt:

„Diakonie entgrenzt das Näheverständnis, in dem sie jeden zum Nächsten erklärt, dem sie nahekommt“

Das Zitat ist von Joachim Weber, der kritisch anmerkt, dass das traditionelle Diakonieverständnis „Du-zentriert“ ist (Joachim Weber: Zwischen Diakoniekritik und kritischer Diakonie, DWI-INFO Sonderausgabe 12, Heidelberg 2010, 154-167; S. 165).

Nur eins noch: Das Poster ist aus dem Jahr 1998, dem Diakonie-Jubiläumsjahr. Ich weiß noch, dass ich vor einigen Jahren nachgeforscht habe, woher es eigentlich stammt. Das DW Westfalen und das DW-EKD haben mir beide versichert, dass es nicht aus ihrem Hause kommt.

Die sieben Diakonien

Das Wort Diakonie gibt es natürlich nicht im Plural. Aber mit dieser nicht ganz korrekten Überschrift möchte ich auf die Vielfalt der unterschiedlichen Diakonie-Formen hinweisen. Diakonie ist eben nicht gleich Diakonie. Beispielsweise sind die Gemeinsamkeiten zwischen einer diakonisch orientierten Gemeinde und einem diakonischen Unternehmen recht gering. Beides ist aber Diakonie. Natürlich kann man einen gemeinsamen Nenner formulieren, die Frage ist nur, wie hilfreich dies für Diakoniewissenschaft wie -praxis ist. Die Gefahr liegt darin, dass entweder diesem gemeinsamen Nenner Gewalt angetan wird (um ihn überhaupt formulieren zu können) oder dass die Besonderheiten und Eigenarten der unterschiedlichen Diakonie-Typen vernachlässigt werden (zu Gunsten eines allgemeingültigen Diakonieverständnisses).

Bei der Frage nach dem diakonischen Selbstverständnis hat sich die folgende kleine Diakonie-Typologie als sehr hilfreich erwiesen, mit der ich in letzter Zeit oft gearbeitet habe. Sie ist rein beschreibender Natur, folgt also keinem normativen Ansatz, und ist leicht verständlich. Diese Typologie beschreibt die Organisationsformen, nicht die Aufgaben von Diakonie. All das, was als Diakonie bezeichnet wird, kann man einem der folgenden Akteurstypen zurechnen. Sicherlich kann man dies auch noch feiner unterteilen.

Diakonische Einrichtungen. Dies ist der Diakonietyp, der die öffentliche Wahrnehmung von Diakonie am stärksten prägt. Viele reichen geschichtlich bis in die Gründerzeit der Inneren Mission zurück. Einige entwickelten sich zu „diakonischen Anstalten“, die heute meist als Komplexeinrichtungen bezeichnet werden (es gibt meines Wissens mittlerweile keine diakonische Einrichtung mehr, die in ihrem Namen noch die Bezeichnung „Anstalt“ trägt). Neben den großen Komplexeinrichtungen gibt es eine Vielzahl von diakonischen (Einzel-)Einrichtungen, in der Regel sind sie als e.V., Stiftung oder GmbH organisiert.

Diakonische Gemeinden. Im Gegensatz zum Begriff „Gemeindediakonie“ (der eher normativ ist) wähle ich an dieser Stelle die Bezeichnung „diakonische Gemeinde“. Das diakonische Grundprogramm von Kirchengemeinden ist zwar sehr gering: Fürbitte („diakonisches Gebet“), Kollekte und (Pfarrer-)Diakoniekasse. Aber es gibt eine wachsende Anzahl diakonisch orientierter Gemeinden, die in ihrer ambitionierten Arbeit von den anderen Diakonieformen manchmal unterschätzt werden.

Regionale Diakonische Werke (DWs). Sie bilden die flächendeckende diakonische Grundstruktur. Kernbestandteil sind meist Beratungsstellen. Wesentlich für diesen Diakonie-Typ ist der kommunalpolitische Bezug und die Brückenfunktion zwischen den „organisiert diakonischen“ und „verfasst kirchlichen“ Systmen. Die regionalen Diakonischen Werke unterscheiden sich von Landeskirche zu Landeskirche zum Teil deutlich.

Diakonische Social Business-Organisationen. Zugegeben, der Begriff ist nicht schön, aber ich kenne derzeit keinen besseren. Hierbei handelt es sich um Einzelorganisationen, die von der Initiative von social entrepreneurs leben, also von Menschen mit „Macher-Qualitäten“, die ein soziales Problem mit unternehmerischen Mitteln angehen wollen. Es sind durch und durch unternehmerische Projekte, aber weniger im Sinne von „durchökonomisiert“, sondern im Sinne der eigentlichen Wortbedeutung: etwas unternehmen. Social Business-Organisationen  entwickeln sich oft in zwei Richtungen: Es werden neue Standorte eröffnet und sie vergrößern ihren politischen Einfluss. Sie bleiben dabei ihrem Schwerpunkt treu, etwickeln sich also nicht zu neuen Komplexeinrichtungen. Im freikirchlichen Bereich sind Social Business-Organisationen wesentlich verbreiteter, im „Mainline-Protestantismus“ in Deutschland ist man hier sehr zurückhaltend mit dieser Diakonieform. Meines Erachtens wird dieser Diakonie-Typ aber stark zunehmen, insofern wird sich irgendwann auch die Begriffsfrage klären. Und noch eine letzte Bemerkung: Die in der Gründerzeit der Inneren Mission entstandenen Anstalten und Werke haben aus heutiger Sicht als Social Business-Organisationen begonnen.

Diakonische Fachverbände. Auch Verbände zur politischen Einflussnahme und fachlichen Weiterentwicklung können als  eigenständige Diakonieform gelten. Das Besondere an dieser Diakonie-Form ist, dass sie selbst nicht Träger von konkreten diakonischen Dienstleistungen und Angeboten sind. Aber da die strukturelle Bekämpfung von Not und die Gestaltung von Strukturen durch politische Einflussnahme eine urdiakonische Aufgabe ist, ist das, was diese Verbände machen, selbst auch Diakonie.

Kommunitäre Basisgemeinschaften sind eine nicht zu vergessene Diakonieform. Hier sind es Einzelpersonen oder Familien, die nach alternativen Lebensentwürfen und Sozialformen suchen und sich gemeinschaftlich zusammenschließen. Auch viele Evangelische Kommunitäten haben ein starkes diakonisches Engagement.

Und schließlich stellen die Werke der diakonischen Entwicklungsarbeit eine eigenständige Diakonieform dar, wie Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt, Hoffnung für Osteuropa oder Evangelischer Entwicklungsdienst.

Es gibt vielfache Überschneidungen. In manchen diakonisch engagierten Kirchengemeinden sind Beratungsstellen entstanden, die mittlerweile an die Ausmaße eines kleinen Diakonischen Werkes heranreichen. Einige Diakonische Werke entwickeln sich zu diakonischen Unternehmen und übernehmen auch deren Handlungslogik. Aus kommunitär geprägten Basisgemeinschaften entwickeln sich zum Teil Social Business-Organisationen. Und so weiter, und so weiter…

Die Unterscheidung dieser Typen und die Wertschätzung ihrer Unterschiede helfen falsche Erwartungen zu klären und Missverständnisse auszuräumen. Fragt man nach den Möglichkeiten und Grenzen dieser sieben Typen, sollten vor allem die unterschiedlichen Rollen, Motive und Handlungslogiken reflektiert werden. Anhand dieser Unterschiede werden dann auch die Schwierigkeiten zwischen den einzelnen Diakonieformen, die es zuweilen gibt, deutlich und verständlich. Das bedeutet aber auch, dass jede dieser Diakonieform ein eigenes Selbstverständnis hat. Denn es gibt eben nicht das diakonische Selbstverständnis, sondern ausschließlich kontextbezogene Diakonieverständnisse. Und diese können durchaus in Konkurrenz zu anderen Selbstverständnissen stehen.

UPDATE 2012-01-07: Ich habe in letzter Zeit an mehreren Stellen wieder mit dieser Typologie gearbeitet und merke immer mehr, dass tatsächlich eine Form fehlt – wie im Kommentar (s.u.) ja bereits angedeutet: Initiativen und Projektgruppen. Oft entstehen sie in Gemeinden (oder deren Umfeld), sind aber nicht mit diesen gleichzusetzen. Sie sind flüchtiger als die anderen Formen, aber ihre Stärke liegt darin, dass sie oft schneller und flexibler sind und vor allem monothematisch ausgerichtet sind (was sich ja auch gegenseitig bedingt). Umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, wie ich sie eigentlich vergessen konnte! Vielleicht lag es an der Siebenerzahl…

Diakonische Kompetenz

Oft ist in der Diakonie vom „diakonischen Handeln“ die Rede. Ich finde diesen Begriff missverständlich, weil er nämlich suggeriert, dass es neben sozialarbeiterischem, therapeutischem, pflegerischem oder pädagogischem Handeln auch ein spezifisches diakonisches Handeln gebe. Der Begriff „diakonische Kompetenz“ trifft es in meinen Augen viel besser. In dem Artikel „Was ist diakonische Kompetenz?“ habe ich meine Überlegungen zusammengefasst.

„Kompetenz meint die Fähigkeit, sich in offenen und dynamischen Situationen selbstorganisiert zurechtzufinden (Erpenbeck/von Rosenstiel). Diakonische Kompetenz bedeutet demnach, mündig und fundiert Diakonie zu gestalten und beizutragen, sie zu ermöglichen. Diakonische Kompetenz setzt beim Kern des Diakonischen an. Sie beschreibt den „Tiefengrund“ von Werten, Motivationen, Wissen und Fertigkeiten des Tätigseins in der Diakonie – und zwar grundsätzlich, also „fachlichkeitsübergreifend“. Die unterschiedlichen diakonierelevanten Fachlichkeiten stellen daher keine Alternative zur diakonischen Kompetenz dar, im Gegenteil: die Handelnden können ihr berufliches Handeln auf der Grundlage diakonischer Kompetenz ausüben.“ (Martin Horstmann: „Was ist diakonische Kompetenz?“ Ein Beitrag zu einem hoffentlich nützlichen Konstrukt, 2011, S. 5).

Kurz ein paar Eckpunkte, die mir wichtig sind:

  • Diakonische Kompetenz meint also nicht kon­krete liturgische, homiletische oder katechetische Tätigkeiten (wie Rituale gestal­ten, Andachten halten oder Glaubensinhalte kommunizieren), denn diese wären eben Bestandteil liturgischer, homiletischer oder katechetischer Kompetenz.
  • Diakonische Kompetenz leistet die Anschlussfähigkeit an sozialberufliche Diskurse. Sie kann sich auf die unterschiedlichen Verständnisse von Professionalität und Fachlichkeit beziehen, in erster Linie natürlich auf die ver­schiedenen Sozialberufe, letztlich aber auch darüber hinaus.
  • Diakonische Kompetenz stellt die Verbindung zwischen dem inhaltlichen Gehalt des Diakonischen und dem Handeln der diakonisch Tätigen her. Dadurch besteht die Chan­ce, dass die eher diffusen Beschreibungsversuche eines „diakonischen Profils“ überwunden werden können.

Die Aufgabe eines diakonischen Kompetenzmodells besteht also darin, zwischen dem in­haltlichen Gehalt des Diakonischen und dem konkreten Tätigsein im diakonischen All­tag zu vermitteln. Gleichzeitig soll diakonische Kompetenz eine Brücke schlagen zwischen individuellem Wissen, Können und Haltung des Diakoniemitarbeiters auf der einen Seite und den organisationalen Anforderungen diakonischer Einrichtungen auf der anderen Seite. Diakonische Kompetenz bezieht sich auf die grund­legende Struktur des Diakonischen und lässt sich eben nicht über einzelne „oberflächliche“ Profilelemente bestimmen.

Mögen diese konzeptionellen Überlegungen hilfreich sein. Vor zwei Jahren hatte ich eine erste Skizze zur diakonischen Kompetenz vorgelegt (Martin Horstmann: Diakonische Kompetenz, in: Volker Herrmann (Hg.): Soziales Leben gestalten. DWI-Jahrbuch 40, Heidelberg 2009, 245-261). Im Zuge meiner Dissertation habe ich nun einige Aspekte präzisiert. Das Modell hat sich nicht verändert, nur benenne ich jetzt keine konkreten Kompetenzelemente, sondern beschreibe einen Ansatz, wie man zu eben solchen Einzelkompetenzen gelangt.

Was ist Diakonie? (#1)

Diakonie ist nicht einfach „helfen“ (wenngleich Diakonie natürlich eine Menge mit Helfen zu tun hat), Diakonie ist nicht einfach „Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft“ (wenngleich sich Diakonie natürlich sehr häufig in dieser Form manifestiert). Aber was ist denn nun Diakonie? Ich beginne hiermit eine Serie an Beiträgen, in denen diese Frage immer wieder gestellt und immer wieder neu beantwortet wird.

Wenn man Diakonie mit theologischen Größen „zu packen kriegen“ will, werden meist Nächstenliebe und Dienst (bzw. Dienen) als erstes genannt. Beides ist nicht falsch – Diakonie ist Dienst am Nächsten – aber erklärt das wirklich etwas? Es braucht meines Erachtens andere theologische Begriffe, um zu beschreiben, was Diakonie meint. Begriffe, die sowohl eingängiger als auch sperriger sind als Nächstenliebe. Begriffe, die besser zum tieferen Kern des Diakoniegeschehens vordringen können.

Hier ein Vorschlag: Diakonie ist Versöhnung, Verwandlung, Bevollmächtigung. Alle drei Begriffe sind Prozess-Begriffe. Und das passt, denn Diakonie ist viel mehr ein Geschehen als ein Ergebnis oder eine konkrete Tat. Diakonie ist die Art von Geschehen, in dem Versöhnung geschieht, in dem sich Wandel vollzieht, in dem Menschen bevollmächtig werden.

Verwandlung, Versöhnung, Bevollmächtigung – dies ist der Untertitel einer aktuellen Diakonie-Publikation des Lutherischen Weltbundes (LWB). Und diese drei Begriffe beschreiben eben genau das, was Diakonie meint:

„Als integraler Teil der Mission der Kirche sind diese drei Dimensionen folglich auch Schlüsselbegriffe für die Diakonie: sie sind grundlegende Wegweiser für die diakonische Arbeit. Gleichzeitig sind Verwandlung, Versöhnung und Bevollmächtigung Indikatoren dafür, wie die Arbeit geleistet wird und an welchen Werten sie sich orientiert (…) Wir müssen alle verwandelt, versöhnt und bevollmächtigt werden. Aus diesem Grund benötigen wir alle Diakonie; zuerst Gottes Diakonie, wie sie in Jesus Christus offenbart wurde, und dann auch Diakonie im Sinne der gegenseitigen Fürsorge und Weggemeinschaft“ (S. 43; S. 44).

Die Reflexionen zu diesen drei theologischen Größen sind lesenswert, genau wie die ganze Publikation. „Diakonie im Kontext – Verwandlung, Versöhnung, Bevollmächtigung“ ist der komplette Titel. Er spielt auf eine einige Jahre zuvor erschienene LWB-Publikation an: Mission im Kontext (2005), mit eben demselben Untertitel. Der Text hat mich aufgrund seines grundlegenden Charakters immer wieder an die Diakonie-Denkschrift Herz und Mund und Tat und Leben (1998) der EKD erinnert. Allerdings wurde mir durch diese Lektüre deutlich, an welchen Stellen die Denkschrift begrenzt ist. Denn dort wird Diakonie in erster Linie als organisierte Diakonie verstanden und über die verschiedenen Arbeitsfelder beschrieben. Das LWB-Papier geht von den ökumenischen Kontexten aus (dadurch ist nicht alles auf die deutsche Situation übertragbar) und versucht wesentlich stärker mit theologischen Reflexionen die diakonische Identität zu beschreiben.

Was ist Diakonie? Diakonie ist ein versöhnendes, verwandelndes und bevollmächtigendes Geschehen.

Frohe Weihnachten!

Auf den Seite des LWB ist der Text leider nicht zu finden. Er kann für 4€ bestellt werden beim Deutschen Nationalkomitee des LWB.

UPDATE 2015-02-13: Die Publikation ist mittlerweile als PDF frei erhältlich. (Danke, Thomas!)

UPDATE 2011-12-18: Ich sehe jetzt (erst), dass es die Publiaktion als PDF gibt (auf englisch)!