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„Neue Gemeindeformen“ und ihre Bedeutung für die Diakonie

Die aktuelle Ausgabe 1/2013 der Zeitschrift “Praktische Theologie” hat den Schwerpunkt “Neue Formen von Gemeinde”. Ich zähle nun nicht zu den Insidern der Gemeinde-Entwicklung, aber mir scheint es doch gegenwärtig ein gewisses Interesse daran zu geben, wie und was Gemeinde sein kann. Also ein sehr aktuelles Thema. Und – ist das nun erstaunlich oder ist es das nicht? – ein äußerst ergiebiges Thema für diakonische Entdeckungen.

Lange Zeit schien das Thema “Gemeinde” vom Tisch zu sein. Kirche organisiert sich halt in Gemeinden, aber wer innovativ sein will, der sollte sich dann doch lieber von der Gemeinde fernhalten. Innovation ist woanders. Das fordert natürlich auch eine Gegenbewegung heraus, bei der alles daran gesetzt wird, dass Gemeinde so innovativ wie möglich daherkommt. Bevorzugte Vokal ist dabei “frisch” (und weil das so altbacken klingt, nennt man es lieber “fresh”).

Das Positive an dem Schwerpunktheft der Praktischen Theologie ist in meinen Augen, dass man sich nicht von den euphemistischen, aber letztlich doch inhaltlich unbestimmten Schlagworten “alternativer” oder “fresh”er Ansätze leiten lässt. Sondern es geht um die nüchtern klingende, aber äußerst spannende Grundfrage: Wie funktioniert eigentliche (christliche) Vergemeinschaftung? Dazu werden sieben Gemeinden vorgestellt. Diese sind:

Die Schilderungen der Gemeinde(forme)n sind anregend zu lesen und es lohnt sich, über die anschließenden systematisierenden Überlegungen von Ralph Kunz und Uta Pohl-Patalong nachzusinnen. Zwei Gedanken gingen mir dabei immer wieder durch den Kopf:

Die Frage nach der diakonischen Dimension der (neuen) Gemeindeformen

Kunz und Pohl-Patalong betonen, dass die vorgestellten Gemeinden deutliche diakonische Bezüge haben – seien sie explizit oder implizit:

“Auffallend häufig finden sich bei den vorgestellten Gemeindemodellen ein gesellschaftliches Engagement in Solidarität mit benachteiligten Menschen. Die St. Lukas-Kirche in Gelsenkirchen und die Mitenand-Arbeit in Basel leben von diesem Motiv, aber es findet sich bei allen anderen in unterschiedlicher Weise, sei es als sozialdiakonisches Arbeitsfeld ‘Haltestelle LUX’, das sozial benachteiligte Jugendliche fördert, sei es als Auseinandersetung mit gesellschaftlichen Fragen wie in der Stadtkirche Dortmund oder als Forum für die aktuellen Fragen im Stadtteil wie im Ökumenischen Forum HafenCity, sei es als konkrete diakonische Arbeit im Quartier in der Gellertkirche Basel” (Kunz/Pohl-Patalong, S. 34).

Für Kunz und Pohl-Patalong weisen diese neuen Gemeindeformen “neue Mischungen von Sozialität, Spiritualität und Solidarität” auf (S. 35). Das Mischungsverhältnis der sozialen, spirituellen und solidarischen Dimension macht dann den Charakter der Gemeinde aus. Und ich mag mich täuschen, aber mir scheint, dass sich bei den Diskursen rund um das Diakonische der Kirche im Laufe der Jahre der Klang geändert hat. Ein gewisses Pathos, das oft mit diakonischer Arbeit einherging (etwa: Diakonie als Gerechtigkeitsarbeit, die nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch noch gegen die Kirche kämpfen muss), verebbt zunehmend. Ein neues Interesse an Spiritualität, Kontemplation oder Liturgie scheint gerade nicht – wie in der diakonischen Szene oft befürchtet – die Diakonie zu verdrängen. Sie wird im Gegenteil neu entdeckt; etwas unaufgeregter, aber mit durchaus radikalem Potenzial.

Vielleicht ist das aber auch eine etwas überschießende Interpretation von mir, mag sein…

Und andersrum: Die Frage nach der Gemeinschaftsdimension in der Diakonie

Es ging mir aber noch etwas Zweites durch den Kopf. Die Frage nach angemessenen Sozialformen und die Erkenntnisse der beschriebenen Vergemeinschaftungsprozesse sind auch für die Diakonie in ihrer institutionalisierten Variante spannend.

Meine These – die ich in Vorträgen schon gelegentlich betont, aber hier im Blog noch nicht dargestellt habe (wird nachgeholt!) – ist, dass Diakonie vier Grundfunktionen hat. Und damit eine mehr als das gängige Dreier-Modell mit Dienstleistung, Interessensvertretung (oft als „Anwaltschaftlichkeit“ bezeichnet) und Solidaritätsstiftung. Die vierte Funktion ist die der Gemeinschaftsbildung. Für mich ist auch die Pflege von Sozialkapital, die Beheimatung in kleineren und größeren Kollektiven, das Bemühen ums Dazuzugehören oder das Aufbauen von Netzwerken eine Grundfunktion der Diakonie.

Dazu gehört auch das Suchen und Ausprobieren von immer wieder neuen, angemessenen Sozialformen und das Wahrnehmen und Reflektieren von Vergemeinschaftungsprozessen. Auch deshalb sind die 7 + 1 Artikel dieser PrTh-Ausgabeauch für die Diakonie interessant.

Um die Dortmunder Stadtkirche St. Petri bildet sich eine eigene Szene, in der es immer wieder zur der überraschend-irritierenden Erkenntnis kommt, dass man in St. Petri gar nicht eintreten kann – denn rechtlich ist sie eben gar keine eigenständige Gemeinde. Weil man aber gerne irgendwo eintreten möchte, gründet man halt einen Förderverein. Auch um die Hamburger Kirche der Stille gruppiert sich eine Szene. Gemeinschaft wird gesucht, aber der Begriff „Gemeinde“ wird vermieden – zu viele negative Konnotationen schwingen mit. Die Alternative lautet dann „spirituelles Zuhause“. Bei der Jugendkirche LUX geht es um Beziehungen in Teams und Kleingruppen, die zusammen ein Netzwerk bilden. Dies führt zur Nutzung des „Community“-Begriffs, der sowohl das soziale Phänomen als auch dessen theologische Deutung aufnimmt. Die gemeinwesendiakonisch ausgerichtete Lukas-Gemeinde in Gelsenkirchen orientiert sich an „gelebter Nachbarschaft“; das Verhältnis der Sozialformen „Gemeinde“ und „Gemeinwesen“ wird mit „Nachbarschaft“ auf den Punkt gebracht. Auch das Ökumenische Forum HafenCity knüpft an die Idee eines Nachbarschafts- bzw. Begegnungsortes an, gemeinschaftliche Dynamik entfaltet sich zudem durch eine Kommunität und eine Hausgemeinschaft. Die missionarisch ausgerichtet und von Willow Creek geprägte Gellertkirche in Basel besteht aus einem Geflecht von über hundert (!) verschiedenen Kleingruppen; die zwei zentralen Gottesdiensten haben für landeskirchliche Verhältnisse Großveranstaltungscharakter. Und wiederum ganz andere Sozialformen bilden sich in der vor allem von Migrant/innen getragenen Mitenand-Bewegung in Basel. Eine Arbeit, die entdeckt hat, dass inklusive Ideen unter erschwerten Bedingungen möglich werden können, wo integrative Ansätze eben nicht möglich sind. Besondere Formate sind ein babel-artiger Gottesdienst ohne gemeinsame Sprache, ein sonntäglicher Begegnungsraum und eine eigene Art von Gemeindefreizeit.

Diakonie war immer wieder dann innovativ, wenn sie das Potenzial bestimmter Community-Arten entdeckt hat und zum wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit gemacht hat: Kommunität, Verein, Anstalt, Haus(-Familie), Wohngruppe, vereinzelt auch die Genossenschaft oder die Hausgemeinschaft, neuerdings die Nachbarschaft. Unter diesem Gesichtsprunkt birgt eine Debatte um neue Gemeindeformen durchaus auch noch Einiges an Potenzial für die Diakonie.

Gemeinwensenorientierte Ansätze werden hierbei eine wichtige Rolle spielen, das liegt ja bereits auf der Hand. Das Geflecht aus Zellen, Clustern und Netzen (wie in missionarischen oder in jugendkulturellen Gemeinden) könnte gerade für das Gelingen von Teilhabeprozesse eine entscheidende Bedeutung haben (wird meines Wissens aber unter „diakonischer“ Perspektive noch nicht bedacht). Das Phänomen, dass sich sogar in eher losen Szenen Wünsche nach formaler Zugehörigkeit entwickeln, ist vor allem für diakonische Gemeinschaften interessant. Die meines Erachtens wichtigste Brutstätte diakonisch relevanter Sozialformen sind die Migrantengemeinden. Nicht aus einer falsch verstandenen naiven Romantik heraus, sondern weil sie Integrations- und Inklusionsbemühungen noch einmal gegen den Strich bürsten.

tl;dr
Neue Gemeindeformen haben deutlich diakonische Dimensionen. Und die Diakonie braucht als Gemeinschafts-Bilder den Diskurs um neue Sozialformen.

Diakonisches Profil: Neues Dossier und einige Notizen

So, das dritte Dossier auf diakonisch.de ist online. Es dreht sich rund um das Thema „diakonisches Profil“. Dazu ist natürlich schon sehr viel publiziert worden, deshalb steht bei diesem Dossier eine qualitative Reduktion im Vordergrund. Es ist eine kleine, aber umso feinere Auswahl geworden. Damit man nicht alles lesen muss, sondern nur das Gute.

Zur Einstimmung hier noch vier Punkte, die mir bei der Beschäftigung mit dem Thema über die Jahre hinweg wichtig geworden sind. Wenn man diesen Ausführungen folgt, umgeht man die gängigsten Kurzschlüsse der Profil-Debatte (zumindest meiner Meinung nach…).

Diakonie ist nicht gleich Diakonie – diakonisches Profil ist immer kontextabhängig

Die verschiedenen diakonischen Akteure unterscheiden sich sehr deutlich. Ein regionales Diakonisches Werk auf Kirchenkreisebene und ein Krankenhaus eines diakonischen Trägers haben auf den ersten Blick – und auch noch auf den zweiten und dritten – nicht viel gemeinsam, wenn man einmal von der Tatsache absieht, dass beide formaljuristisch Mitglied der Diakonie sind. Von Kirchengemeinden und anderen diakonischen Akteuren ganz zu schwiegen. Doch nicht nur die Akteure in der Diakonie-Landschaft unterscheiden sich, auch die Arbeitsfelder sind von völlig verschiedenen Rahmenbedingungen und inhaltlichen Dynamiken geprägt.

Man kann nun nicht einfach für die verschiedenen Akteure und für die verschiedenen Bereiche ein allgemeingültiges diakonisches Profil formulieren. Es gibt kein diakonisches Profil an und für sich. Oder aber man bleibt äußerst allgemein und abstrakt, dann aber um den Preis, dass das diakonische Profil wenig Berührung zum diakonischen Alltag und zu den konkreten Tätigkeiten hat. Und genau das sollte vermieden werden!

Diakonie entsteht im Handeln und im Deuten. Diakonie ergibt sich nicht aus einer Diakonie-Theorie

Der erste Satz klingt vielleicht unspektakulär, führt aber zu der wichtigen Konsequenz, dass diakonisches Profil nicht aus einer Theorie „abgeleitet“ werden kann. Deduktion ist kaum möglich, oder treffender gesagt: wenig sinnvoll. Diakonische Identität gibt es nicht an und für sich. Erst im Tätigsein, in der Auseinandersetzung und der Vergewisserung kann sich das zeigen, was Diakonie ist. Für das diakonische Profil bedeutet dies: Es geht nicht um eine deduktive Profilableitung sondern um eine induktive Profilvergewisserung (vgl. H.-G. Ziebertz, Sozialarbeit und Diakonie, Weinheim 1993, 152). Diakonische Bildung hat daher nicht die Aufgabe, zuvor definierte Profilaussagen zu vermitteln, die dann im diakonischen Alltag nur noch umgesetzt werden müssten, sondern immer wieder neu zum Prozess eigener Profilvergewisserung anzuregen. Diakonische Identitätsentwicklung und Profilbildung ist keine einmalige, abgeschlossene Aufgabe. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass beispielsweise der Bildungswert eines formulierten Einrichtungsleitbildes äußerst gering ist. Unter Nachhaltigkeits-Gesichtspunkten ist ein „fertig“ formuliertes Leitbild nicht viel mehr als dies: nice to have. Etwas ganz anderes ist die gemeinsame Erarbeitung eines Leitbilds.

Wichtig für diakonisches Profil ist das Konstitutive, nicht das Spezifische

Wenn man nach dem Wesentlichen der Diakonie sucht, ist die Unterscheidung von Konstitutivem und Spezifischem sehr hilfreich. Man kann auch von inklusiven und exklusiven Merkmalen des diakonischen Profils sprechen, das meint in etwa das Gleiche.

Es geht um Folgendes: Das Eigentliche der Diakonie darf nicht mit dem Einzigartigen der Diakonie verwechselt werden. Es ist fraglich, ob mit einem Bündel von Besonderheiten das Wesen der Diakonie zutreffend beschrieben werden kann. Das Spezifische fragt nach dem Besonderen, dem Einzigartigen; es entsteht aus der Abgrenzung gegenüber Anderem. Das Konstitutive fragt nach dem Wesentlichen, dem Bedeutsamen – egal, wie und ob dies auch bei Anderen so ist.

Ein hilfreiches Beispiel diesbezüglich stammt von Herbert Haslinger: Wenn man fragt, was das Spezifische am Katholizismus ist, würden sicherlich Papsttum oder Marienfrömmigkeit als erstes genannt werden. Würde man nun eine Liste mit all diesen Spezifika aufstellen, hätte man damit trotzdem in keinster Weise das Wesen des Katholizismus erfasst. Denn dazu zählen ganz besonders auch Elemente, die es in anderen Konfessionen (der Glaube an Jesus Christus), teilweise auch in anderen Religionen (Gebet, religiöse Gesänge, etc.) gibt. Dieses Beispiel ist leicht zu übertragen auf die Frage nach dem spezifischen bzw. konstitutiven Profil der Diakonie.

Das Spezifische beschreibt damit also gerade nicht das Eigentliche, sondern nur Sonder- und Spezialaspekte – und lenkt dadurch von der Sache ab. Eine Gegenprofilierung ist „keine gute Möglichkeit der diakonischen Profilentwicklung“ (H.-St. Haas, Diakoie Profil, Gütersloh 2004, 240), sie ist auch kaum in der Lage, überhaupt zum Wesentlichen vorzudringen, da sie sich immer an Spezifika verausgaben wird. Die Frage nach den Spezifika muss dabei nicht völlig aufgegeben werden: Sie kann nützlich sein, wenn man sie als Prüf-Kriterium einsetzt (um zu schauen, ob man nicht bestimmte Aspekte völlig übersehen hat), aber eben nicht als Such-Kriterium.

Diakonisches Profil meint weder etwas „Zusätzliches“ noch eine eigene „diakonische Fachlichkeit“

Diakonisches Profil wird oft als etwas „Zusätzliches“ wahrgenommen. Viele Mitarbeitende empfinden, dass das Diakonische etwas Zusätzliches ist, dass ein irgendwie geartetes „Mehr“ erwartet wird – und dass dieses „Mehr“ gerade an ihnen hängt: „Jetzt müssen wir nicht nur fachlich gut sein und den Alltag hier irgendwie überstehen – jetzt müssen wir auch noch besonders diakonisch sein!“ Oft ist es auch ein unterschwelliger Druck, was die Sache nur noch subtiler macht. Natürlich gibt es auch „zusätzliche“ Aspekte rund um das Thema „diakonisches Profil“. Aber meiner Meinung nach liegen diese dann eher auf Seiten des Trägers und nicht beim Mitarbeitenden. Beispielsweise eine Vernetzung mit anderen kirchlichen Institutionen, ein Augenmerk auf eine besondere Ästhetik in der Einrichtung oder die Einrichtung eines Andachtsraums – dies sind alles Sachen, die für den Träger etwas Zusätzliches bedeuten, aber nicht für das Handeln der Mitarbeitenden.

Es geht in der Diakonie wie in der Sozialen Arbeit allgemein um eine gute Fachlichkeit und um eine möglichst hohe Professionalität. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich denn nun die Fachlichkeit und das Diakonische zueinander verhalten. Es taucht immer mal wieder der Begriff einer „diakonischen Fachlichkeit“ auf. Dies ist in meinen Augen aber ein problematischer Begriff, denn er suggeriert, dass es neben pädagogischer, sozialarbeiterischer, therapeutischer oder pflegerischer Fachlichkeit eben auch noch eine eigene diakonische Fachlichkeit gäbe. Man kann dem kurz und prägnant entgegenhalten: „Es gibt kein evangelisches Poabwischen“ (E. Hauschildt: Wider die Identifikation von Diakonie und Kiche, PTh 89 (2000), 415). Es bringt daher wenig, von einem diakonischen Handeln auszugehen, dem eine andere Fachlichkeit innewohne. Es lohnt sich nicht, sich an dieser Front zu verkämpfen. Stattdessen geht es um eine gute Fachlichkeit. Heinz Rüegger und Christoph Sigrist, die eine äußerst empfehlenswerte Einführung in die Diakonie vorgelegt haben, betonen: „Wollen sich diakonische Dienstleistungsangebote profilieren, können sie es nur, indem sie nach allgemeingültigen Standards möglichst exzellent werden: fachlich qualifiziert, sozial und kommunikativ kompetent, innovativ, ethisch sensibel, kostenbewusst und kundenfreundlich“. (Rüegger/Sigrist: Diakonie – eine Einführung, Zürich 2011, 145).

tl;dr
Diakonisches Profil gibt es nur konkret, nicht an und für sich. Es entsteht im Handeln und Deuten. Das Eigentliche muss nicht einzigartig sein

Das Zürcher Diakoniekonzept

Die reformierte Kirche im Kanton Zürich hat ihr neues Diakoniekonzept veröffentlicht. Ich kann die Lektüre nur wärmstens empfehlen! (Hier gibt es das PDF).

Das Zürcher Diakonie-Konzept ist eine gut strukturierte und ansprechend gestaltete Orientierungshilfe für die Diakonie der Kirchengemeinden. Von Grundsatzfragen bis hin zu konkreten Reflexionshilfen bietet das Papier einen Rundumschlag zur Organisation der Gemeindediakonie, fundiert und substanziell. Beispielsweise ist mir bisher kaum solch ein erkenntnisreicher Schweinsgalopp durch die Diakoniegeschichte begegnet. Auch die vier diakonischen Arbeitsweisen sind zwar äußerst knapp, aber gut (S. 48). Respekt.

Mit Hilfe des Diakonie-Konzepts sollen Kirchengemeinden in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Diakonieprofil zu entwickeln. Daher gefällt mir besonders, dass zunächste einmal einige wichtige Dimensionen geklärt werden. Die wesentlichen sind:

  • Rolle der Diakonie: Diakonie als Pionieren, als Stellvertreterin, als ergänzende Kraft (S. 35),
  • Aktionsradien: lokal, übergemeindlich, weltweit (S. 33-34),
  • Akteure: freiwillig Engagierte, Kirchenpfleger, Sozialdiakonat und Pfarramt (S. 49-51),
  • Zielgruppen: Menschen in vielfältigen Lebensformen, Jugendliche und junge Erwachsene, ältere Menschen und Hochbetagte (S. 29-31),
  • Kernthemen: Gesundheit und Wohlergehen, Existenz und Arbeit, Zugehörigkeit und Teilhabe (S. 37-41),
  • Kulturen: Kultur der Wertschätzung, Kultur der Gestaltung, Kultur der Gastfreundschaft (s. 37-41).

Als zentrales Tool wird eine „Zwölffeldertafel“ (S. 28) entwickelt, in der Zielgruppen, Kernthemen, Kukturen und Aktionsradien zusammengefasst werden. Das überzeugt mich allerdings nicht so ganz, denn die Matrix wirkt doch recht konstruiert (als Konzept gut, aber als Reflexionstool scheint sie mir dann überfrachtet).

Das Thema Teilhabe müsste meiner Meinung nach wesentlich stärker ausgearbeitet werden: Wie steht es um die Teilhabegerechtigkeit in der Schweiz? Welche Teilhabemöglichkeiten bieten Kirchengemeinden? Vielleicht wirkt sich auf die Formulierung solch eines Konzeptes dann ja doch aus, dass wir uns in einer der reichsten Regionen Europas befinden…?!

Dafür hat das Zürcher Papier an einer anderen Stelle deutliche Stärken: Diakonie wird in dem Papier als kirchliches Handlungsfeld verstanden, das sich strategisch ausrichtet und sich nicht über moralinsauren Aktionismus behauptet. Gerade das ist wichtig, um innerkirchlich auch tatsächlich ernstgenommen zu werden. Ein Weltretter- und Wir-sind-die-Guten-Image, das sich bemerkenswert häufig in diakonischen Positionspapieren wiederfindet (natürlich nicht offensichtlich, aber doch als wahrnehmbarer Subtext), macht Diakonie eher lächerlich. Das Zürcher Papier ist dagegen frei von  Betroffenheitspathos. Dafür bietet es aber einen sehr konkreten Vorschlag zum Umfang von Personalstellen (S. 56-58) und einen Ansatz zur Verhältnisbestimmung von Pfarramt und Sozialdiakonat (S. 52).

Davon kann man sich eine Scheibe abschneiden!

Zivilgesellschaftsfähig werden

Der Diakonie-Bundesverband hat einen neuen „Diakonie Text“ veröffentlicht zur Rolle der Diakonie in der kommunalen Daseinsversorgung (Diakonie Texte 06/2012):

„Mit dem vorliegenden Papier will die Diakonie einen Beitrag zur Diskussion liefern, wie trotz dieser engen Rahmensetzungen Sozialpolitik in den Kommunen nachhaltig gestaltet werden kann und welche Rolle und Gestaltungsmöglichkeiten der Diakonie zukommen. […] Auch wenn der finanzielle Rahmen oft als einschränkend erlebt wird, kann er kein Argument dafür sein, auf eine engagierte Mitgestaltung der kommunalen Daseinsfürsorge
zu verzichten“ (S. 3).

Im Mittelpunkt stehen die Perspektiven, wie sich diakonische Träger vor Ort kommunalpolitisch und zivilgesellschaftlich positionieren können (Kapitel 5). Für die örtlichen diakonischen Träger werden ein knappes Dutzend Vorschläge gemacht (es folgen dann noch Vorschläge für die Landes- und Bundesverbandsebene), die mit konkreten Praxisbeispielen untermauert werden. Die Grundbotschaft lautet, dass Diakonische Werke durchaus gesellschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene haben.

Beim Lesen des Textes hatte ich den Eindruck, dass dieses Papier einen deutlich programmatischen Charakter hat: Hier geht es nicht nur um good practice-Beispiele, hier wird der Weg zu einem zivilgesellschaftlich verankerten Diakonieverständnis beschrieben. Schließlich ist die Diakonie nicht nur Träger von (mehr oder weniger refinanzierten) sozialen Dienstleistungen, sondern ganz besonders auch ein zivilgesellschaftlicher Akteur, der gesellschaftspolitisch Einfluss nehmen und Debatten vorantreiben will, sich als relevante Größe im Sozialraum und als verlässlicher Kooperationspartner der jeweiligen Gebietskörperschaften erweisen möchte.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Diakonische Einrichtungen und Verbände sind einerseits wichtige Akteure in der Zivilgesellschaft – müssen andererseits diese Rolle aber auch immer wieder unter Beweis stellen. Dass diakonische Träger Sozialdiensleistungen professionalisieren und unternehmerisch ausrichten können, wird wohl niemand mehr ernsthaft bezweifeln. Aber beim virtuosen Spielen auf der zivilgesellschaftlichen Klaviatur haben diakonische Träger durchaus noch Nachholbedarf. Dabei darf man Zivilgesellschaft nicht bloß als abzuschöpfendes  Ehrenamtsreservoir missverstehen. Für die Diakonie geht es ganz grundsätzlich darum, ihre eigene „Zivilgesellschaftsfähigkeit zu erhöhen“, wie es das Papier formuliert (S. 15).

Was ist Diakonie? (#8)

Also, ein bisschen skurril ist das Video ja schon. Aber irgendwie gefällt es mir auch. Es geht darum, was denn eigentlich „Diakonie“ bedeutet. Und so etwas muss hier natürlich gepostet werden!

Schöne Antworten. Und auch den Kern getroffen: Der Begriff Diakonie erschließt sich für viele Menschen nicht so recht. Natürlich nicht unter den Bloglesern hier, aber grundsätzlich.

Über zwei Aspekte lohnt es sich, nachzudenken.

Zunächst einmal: Der Begriff Diakonie ist verhältnismäßig unbekannt. Im Jahr 2006 (aktuellere Zahlen habe ich leider nicht), hat nur ein Zehntel der Deutschen auf die Frage, welche Wohlfahrstverbände es gibt, die Diakonie genannt. Es ging dabei um die „ungestützte Bekanntheit“, d.h. es wurden keine  Auswahlmöglichkeiten vorgegeben. Die katholische Schwesterorganisation kann die dreifache Bekanntheit für sich verbuchen, das Deutsche Rote Kreuz kennt jeder zweite – Spitzenwerte! (Quelle: Bekanntheit und Image der Diakonie, Diakonie Texte 13/2006). – Nun gut, man kann entgegenhalten, dass Bekanntheit noch kein Wert an und für sich ist (ein Fundraiser würde das sicherlich anders sehen). Es geht um gute fachliche Arbeit, es geht um christliche Werte. Deshalb finde ich die deutlich geringere Bekanntheit gegenüber der Caritas zwar sehr bedauerlich – grundsätzlich aber undramatisch.

Zum Zweiten: Auch in diesem Video zeigt sich wieder, dass der Begriff Diakonie zwei verschiedene Sachen bezeichnet: nämlich einerseits die Diakonie als Verband (bzw. als Einrichtung), andererseits Diakonie als christliches Konzept. Beim einen geht’s um Organisationen, beim anderen um Theologie. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob diese Doppelnutzung des Begriffs eher ein Vor- oder eher ein Nachteil ist. In Frankreich wird beispielsweise der Diakonie-Verband Fédération de l’Entraide Protestante genannt, la diaconie ist der theologische (und recht unbekannte) Fachbegriff. Im Englischen spricht man von „christian social services“, diaconia kommt so gut wie nicht vor. Auch in Deutschland war Diakonie zunächst der theologische Fachbegriff. Erst als sich die beiden evangelischen Verbände „Evangelisches Hilfswerk“ und „Innere Mission“ zum „Diakonischen Werk“ zusammengeschlossen hatten, erhielt der Begriff „Diakonie“ Einzug in die breite Öffentlichkeit.

Mir ist es wichtig, Diakonie in erster Linie als theolgischen Begriff zu verstehen. Denn wenn Diakonie ausschließlich mit Verbänden und Unternehmen assoziiert wird, erschwert dies den Zugang zu dem, was die diakonische Dimension der Kirche inhaltlich ausmacht. Deshalb finde ich es auch nicht ungeschickt, wie (zunehmend) auf katholischer Seite verfahren wird: Diakonie bezeichnet das theologische Konzept, Caritas den Verband.

Zurück zum Video: Ich weiß nicht genau, woher es stammt und wer dahinter steckt, aber 2:04 gibt zumindest einen Hinweis. Also: Viele Grüße nach Hagen! (?)

Glaubenssätze

Seit einigen Tagen ist die neue Image-Kampagne der Diakonie am Start. Sie hat den Titel In der Nächsten Nähe und läuft in diesem und im kommenden Jahr.

„Sie zeigt, was Diakonie glaubwürdig und wesenhaft ausmacht und zwar jenseits aller tagespolitischen Bezüge und Diskussionen. Dazu wurden die Menschen befragt, die Diakonie im Alltag in den vielen bundesweiten Einrichtungen, Diensten, Verbänden und Unternehmen verkörpern: die Mitarbeitenden.“

Damit hebt sie sich deutlich von der Kampagne Mitten im Leben (2007/2008) ab, in der die Mitarbeitenden schematisch und schemenhaft im Hintergund blieben. Dass die Mitarbeitenden nun in dieser Deutlichkeit nach vorn rücken, ist gut und angemessen. Gleichzeitig stehen sie aber nicht im Vordergrund, die fünf Motive stellen die Beziehung zwischen den abgebildeten Menschen dar. Das ist stimmig.

„Glaubwürdigkeit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort für die neue Kampagne: Die Kampagne gewährt reportageartige Einblicke in Arbeitsfelder der Diakonie, sie zeigt tatsächliche Mitarbeitende, wirkliche betreute Menschen, wahre Beziehungen, reale Örtlichkeiten und echte Gefühle. Teilweise arbeiten die abgebildeten Menschen auf den Plakaten seit Jahren zusammen. Nichts an dieser Kampagne ist in irgendeiner Weise künstlich, beschönigt oder gestellt, nicht einmal die Zitate, die nur sprachlich geglättet wurden.“

Und die fünf Zitate gefallen mir wirklich gut. Sie lauten:

„Ich glaube, kein Lebensabend sollte dunkel sein.“

„Ich glaube, dass Glück keine Behinderung kennt.“

„Ich glaube, dass Heimat im Herzen beginnt.“

„Ich glaube an die Stärken der Schwächsten.“

„Ich glaube, dass Menschlichkeit das wertvollste Medikament ist.“

Komplexes einfach rüberbringen ist eine hohe Kunst. Und wie will man deutlich machen, dass Diakonie etwas mit Glauben zu tun hat, ohne ein Kreuz aufzuhängen oder eine Bibel ins Bild zu rücken? Schwierig. Hier gelingt es auf subtile Art. Es gibt keine religiösen Symbole auf den Motiven (um nicht falsch verstanden zu werden: Ich mag religiöse Symbole, sehr sogar, aber auf inszenierten Motiven wirken sie oft deplaziert und aufdringlich). Stattdessen Glaubensaussagen: Jedes Statement beginnt mit „Ich glaube…“.

Die Glaubensaussagen beziehen sich auf den konkreten Kontext der diakonischen Arbeit. Auch das ist gut, denn es gibt kein allgemeingültiges, auf alle Arbeitsfelder zutreffendes diakonisches Profil. Diakonisches Profil ist immer kontextabhängig, Diakonie entsteht im Handeln und Deuten, also konkret. Schaut man sich die Sätze genauer an, merkt man, wie gehaltvoll sie sind (und dass sie gut formuliert sind). Induktive Theologie – das ist in meinen Augen genau der richtige Ansatz, „diakonisch“ Theologie zu treiben.

Woran glaube ich eigentlich in meinem diakonischen Handeln? Von welchen Glaubenssätzen lasse ich mich leiten? Was wirkt da tief in mir drin, das letztlich meine Fachlichkeit bestimmt? Mentale Modelle sind immer stärker und wirkmächtiger als Fachkonzepte und Einrichtungsleitbilder. Das Ganze ist daher für mich nicht nur eine Plakatkampagne, sondern stellt auch eine didaktisch gute Idee dar, die man leicht aufgreifen kann: Einfach mal die Mitarbeitenden fragen, woran sie glauben und welche Bedeutung dies für ihre Arbeit hat.

Daher finde ich es schade, dass man diese fünf Aussagen rahmt, sie wieder einfangen will mit dem doch recht pastoral anmutenden Vers „In der Nächsten Nähe“. Ich verstehe, dass eine Kampagne einen Claim braucht. Aber die zitierten Glaubensaussagen der Mitarbeitenden gehen über das Motiv der Nähe weit hinaus. Da haben wir dann doch wieder ein deduktives Theologietreiben. Und das geht so: Diakonie ist Nächstenliebe – und deshalb suchen wir jetzt mal Aussagen, die zu Nächstenliebe passen. Das, was man dann gefunden hat, ist komplexer und tiefgründiger als „Nähe“ und „Zuwendung“. Man tütet es dann aber theologisch („Nächstenliebe“) bzw. marketingmäßig („In der Nächsten Nähe“) wieder ein.

Und noch eine Sache sollte man überdenken: Warum hat man für die Plakatreihe vier weibliche und einen männlichen Mitarbeitenden gewählt? Nun, man könnte darauf antworten, dass dieses quantitative Verhältnis exakt der Situation in der Diakonie entspricht (siehe hier, S. 10). Ungeschickt finde ich das trotzdem. Und was sagen wir dazu, dass der männliche Mitarbeiter – natürlich – über den höchsten Bildungsabschluss verfügt? Irgendwie nicht so richtig durchgegendert…

Trotzdem ist es eine gute Kampagne.

Siehe auch meinen Kommentar Endlich mehr Männer und meine Beiträge in der Rubrik „Kampagnen“.

Diakonische Evolution

1971 erschien von Gerhard Noske „Die beiden Wurzeln der Diakonie“ (nur noch antiquarisch erhältlich). Noske beschreibt darin zwei Quellen, aus denen sich diakonisches Handeln speist. Oder um im Bild Noskes zu bleiben: Diakonie lebt aus dem Zusammenwirken „zweier weitverästelter Wurzeln“. Der eine Wurzelstrang ist der menschliche Hilfstrieb, der andere die Hilfe im Kraftbereich des Christusglaubens. Auch wenn für Noske Letzteres das „spezifische Wesensmerkmal“ der Diakonie ist, stellt er doch klar, dass Diakonie aus dem Zusammenwirken beider Wurzeln erwächst.

So Manches an Noskes Ausführungen wirkt heute etwas befremdlich, das Besondere ist aber, dass Noske eben von zwei Wurzeln ausgeht, dass er neben christologischen Begründungen auch schöpfungstheologische Motive heranzieht. Die Begründung des Selbstverständnisses der Diakonie begann sich zu wandeln bzw. zu erweitern. Heute rücken schöpfungstheologische Reflexionen wesentlich stärker in den Vordergrund, zuletzt noch einmal sehr deutlich von Heinz Rüegger und Christoph Sigrist herausgearbeitet.

In dieser Argumentation kommt man dann über kurz oder lang zu der Frage, ob der Mensch grundsätzlich ein sorgendes und pflegendes Wesen ist, also bereits in seinem Bauplan ein “diakonischer” Trieb angelegt ist, oder ob Zuwendung über die pure Arterhaltung hinaus immer nur ein Phänomen in bestimmten historischen und situativen Nischen gewesen ist.

Anders gefragt: Ist “Diakonie” – nicht als Organisation sondern als Handlungsmotiv verstanden – ein konstitutiver Zug des Menschseins oder ist sie eher so etwas wie dessen Gegenprogramm, weil der Mensch grundsätzlich egoistisch angelegt ist? Michael Blume sieht durch die Evolutionsforschung eindeutig die erstere These bestätigt:

“Auch evolutionswissenschaftlich halte ich den Sozialdarwinismus für schlichtweg falsch. Der Mensch wurde, wie schon Darwin zu Recht erkannte, gerade in seiner Evolution zum “sozialen Tier” und konnte sich nur so – in vertrauensvoller Gemeinschaft – zu einem (einigermaßen) intelligenten Lebewesen mit langer Kindheit und also gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln. Ohne mitmenschliche Diakonie (wörtlich: Dienst), ohne Caritas (wörtlich: Nächstenliebe) hätte sich auch kein Homo sapiens sapiens entwickeln können.”

Der Natur des Glaubens-Blogger hat für das gerade erschienene Buch Geistesgegenwärtig pflegen (herausgegeben von Johannes Stockmeier, Astrid Giebel und Heike Lubatsch), einen Artikel zur “Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen” beigesteuert. Dort kommt er zu dem Schluss:

“Die sich immer deutlicher abzeichnende Antwort der modernen Evolutionsforschung hat in sehr direkter Weise mit Erfahrungen der Diakonie zu tun: Es ist das Zeugnis der glaubwürdigen Tat, im evolutionsbiologischen Jargon das “Glaubwürdigkeit steigernde” oder auch einfach “ehrliche Signal” [H. Jospeh 2009]. Menschen schließen sich häufiger den Gemeinschaften an, in denen ein Zusammenhang zwischen gepredigten Ansprüchen und Taten hin zu Verbindlichkeit, Gegegnseitigkeit und, ja, Liebe erkennbar ist. […] Und evolutionär ist das mehr als schlüssig, schließlich gehen wir alle auf Vorfahren zurück, die über viele tausende Generationen hinweg ausreichend richtige Entscheidungen getroffen haben. […] Ja, mit Egoismus, Aggression und Betrug haben Menschen zu kämpfen, noch bevor sie Menschen wurden. Aber nur jene, denen es dennoch immer wieder gelang, auch lebensförderliche Gemeinschaften zu errichten und zu erhalten, gehören zu unseren Vorfahren” (Michael Blume 2012; S. 288, 288, 289).

Diakonie – in einem recht weiten Verständnis – hat den Menschen erst zu dem werden lassen, was er ist. Gerade die Sorge auch für diejenigen Menschen, die für Clan, Sippe oder Kollektiv streng genommen gar keinen Nutzen mehr aufwiesen (wie z.B. alte Kranke), wird wohl ein Grund gewesen sein, sich eben zu diesen Gemeinschaften zu halten. Und von Menschen aus diesen Gemeinschaften stammen wir ab.

Evolutionswissenschaftlich gesehen ist Diakonie in uns angelegt (ob wir dies als Diakonie interpretieren und dann auch so benennen, ist noch einmal eine andere Frage). Ich muss gestehen: Das gefällt mir.

Michael Blume: Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen, in: Stockmeier/Giebel/Lubatsch (Hg.): Geistesgegenwärtig pflegen, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2012, 283-293. Michael Blume stellt seinen Artikel auch als PDF zur Verfügung.

Guter Service

Vielleicht kennt der eine oder die andere die Internetseiten weihnachtsgottesdienste.de oder ostergottesdienste.de. Ein gemeinsames Angebot von evangelischer und katholischer Kirche, um Zeit und Ort von Gottesdiensten zu recherchieren. Ich habe die Seiten (zu den betreffenden Anlässen) immer gerne genutzt. Ein wirklich guter Service. Bisher fehlte allerdings ein Angebot für die restlichen Gottesdienste.

Das gibt es nun: wegweiser-gottesdienst.de, die „offizielle Gottesdienstsuche der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland“. Bundesweit und für das ganze Jahr kann man nach evangelisch-landeskirchlichen, katholischen und evangelisch-freikirchlichen („andere christliche Konfessionen“) Gottesdiensten suchen. Hervorragend!

Selbst für kirchliche „Insider“ ist die Vielfalt an Gottesdiensten, Gemeinden und kirchlichen Angeboten nicht immer leicht zu durchblicken: Wer bietet was an – und wo ist das bitteschön? Man kann jetzt nur hoffen, dass die einzelnen Kirchengemeinden den Wert dieser Internetseite zu schätzen wissen und ihre Gottesdienste auch wirklich eintragen und die Daten pflegen.

Eine Kleinigkeit könnte man noch optimieren: Warum braucht es in der URL den sperrigen Begriff „Wegweiser“? weihnachtsgottesdienste.de und ostergottesdienst.de kommen ja auch ohne solch einen Zusatz aus. In dieser Logik wäre schlicht und einfach gottesdienste.de eine selbsterklärende und besser zu merkende URL. Sie führt momentan zu einer nicht mehr existierenden Arbeitsstelle der EKD. Vielleicht wäre es ja möglich…

Diakonie als soziale Bewegung?

Mario Junglas, Direktor des Berlines Büros des Deutschen Caritaverbandes, hat einen inspirierenden Artikel zur Entwicklung der Caritas geschrieben. Die Caritas muss mehr Zivilgesellschaft wagen ist der Titel, erschienen ist er im neue caritas-Jahrbuch 2012. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber der Artikel ist schon fast ein kleines Manifest. Und er gilt ohne Abstriche genauso für die Diakonie. Deshalb kann man ohne Weiteres auch immer Diakonie denken, wenn Junglas von Caritas spricht. Und weil der Artikel nicht online verfügbar ist, zitiere ich mal etwas ausführlicher. (UPDATE 2012-04-22: mittlerweile doch online)

Junglas‘ Anliegen ist es, die Caritas stärker als eine soziale Bewegung zu verstehen:

„Für die Caritas der Kirche genügte es lange, als Verein oder Gruppe, als Einrichtung und Dienst antreffbar zu sein. Das ist nicht vorbei, reicht aber nicht mehr aus. Caritas muss soziale Bewegung sein“ (S. 77).

Die Diakonie und die Caritas sehen sich ja immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, aufgrund der öffentlichen Refinanzierung eher ein unselbständiger Teil des Sozialstaats zu sein als ein autonomer Akteur. Und ein anderer, aber ähnlich gelagerter Vorwurf besagt, dass Caritas- und Diakonie-Einrichtungen durch ihre Ausrichtung als Unternehmen eher Teil des Marktes sind. Beiden Vorwürfen ist gemeinsam, dass die konfessionellen Verbände und Einrichtungen gar nicht in dem Maße Zivilgesellschaft sind, wie sie es immer wieder gerne betonen.

„Gerade die kritisierte Staatsnähe und Marktnähe machen aber die Rolle der Caritas als zivilgesellschaftlichen Akteur fragwürdig, trotz der vielen Ehrenamtlichen. Für viele ist die Caritas kein kreativ herausforderndes Gegenüber zu Staat und Wirtschaft, sondern selbst Teil dieser Ordnungen“ (S. 78).

Man könnte nun einfach sagen: Ja, und? Es ist doch eine Menge wert, dass Diakonie und Caritas leistungsstarke Träger (Unternehmen) und gefragte Sozialexperten (Verbände) sind. Dass stimmt und steht auch gar nicht zur Disposition. Denn Verbands- und Trägeraufgabe haben natürlich Vorteile…:

„Die Caritas ist hochverlässlich. Das ist ein Trumpf sowohl bei der Leistungserbringung als auch in der politischen Debatte und in der Lobbyarbeit. Mit der Verlässlichkeit korrespondiert zugleich eine hohe Berechenbarkeit. Von der Caritas sind in der Regel keine Überraschungen zu erwarten. Man kann sich nicht nur auf sie verlassen, man kann sie einkalkulieren.“

… aber auch Nachteile:

„Das kann uninteressant machen für andere innovative, veränderungswillige gesellschaftliche Kräfte und kann die Versuchung schüren, die Caritas einzurechnen ohne sie einzubeziehen. Als Bewegung kann die Caritas verlässlich bleiben, ohne vollständig berechenbar zu sein, weil sie das enge Korsett verbandlichen und unternehmerischen Handelns durch überraschende und herausfordernde Formen und Inhalte sprengt“ (S. 81).

Denn:

Die Caritas „muss auch noch politisch handlungsfähig sein, wenn Expertentum nicht gefragt oder inopportun ist und klassische Lobbyarbeit an ihre Grenzen kommt“ (S. 78).

Mario Junglas möchte in der Caritas also das Bewusstsein stärken, sich deutlicher als soziale Bewegung zu verstehen – das ist gemeint, wenn es im Titel seines Beitrags heißt: „Mehr Zivilgesellschaft wagen“. Aber es geht nicht nur darum, sich als Bewegung zu verstehen, sondern auch die Strukturen der Caritas dementsprechend neu auszurichten. Dabei soll die Handlungslogik der Bewegung nun nicht die beiden anderen Handlungslogiken verdrängen, sondern ergänzen. Die Caritas ist Kirche – und nutzt dazu eben die ganz verschiedenen Handlungs- und Kommunikationsformen einer Institution (Verband), einer Organisation (Unternehmen oder Einrichtung) und einer Bewegung (Zivilgesellschaft). Caritas und Diakonie erweitern also ihre Handlungs-, Kommunikations- und Mitwirkungsformen, wenn sie sich Logik und Instrumentarium sozialer Bewegungen öffnen.

Wirft man einen Blick in die Leitbilder von Diakonie (DW-EKD) und Caritas (DCV), kann man eine wundersame Entdeckung machen. Der katholische Verband betont ausdrücklich sein Verständnis als soziale Bewegung, bei dem evangelischen Verband ist dieser Gedanke nicht ganz so deutlich ausgeprägt. Man hätte es ja gerade anders herum erwarten können…

Im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes heißt es im Abschnitt zum Organisationsprofil:

„(16) Der Deutsche Caritasverband ist Teil der Sozialbewegung. (…) (19) Er unterstützt den ehrenamtlichen caritativen Einsatz in Pfarrgemeinden, Verbänden, Gruppen und Initiativen. (…) (21) Er fördert die Idee einer Sozialbewegung und arbeitet mit sozial engagierten Menschen, Initiativen und Organisationen zusammen an der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft“ (Leitbild Caritas, Abschnitt III).

Eine vergleichbare Aussage im Leitbild Diakonie lautet:

„Durch unsere Arbeit in den Kirchengemeinden, Diensten und Einrichtungen sind wir Menschen nahe. Selbsthilfegruppen und Initiativen finden bei uns ihren Raum.“ (Leibild Diakonie, 6.These).

Darüber hinaus steckt der Gedanke der Sozialbewegung noch in den Erläuterungen zur 4. These („Wir sind aus einer lebendigen Tradition innovativ“) als historische Wurzel und zur 8. These („Wir setzen uns ein für das Leben in der einen Welt“) bezogen auf das ökumenische Engagement der Diakonie. Überspitzt gesagt heißt das: Diakonie ist soziale Bewegung, aber hauptsächlich damals und woanders.

Man muss nun natürlich beachten, dass es sich hierbei lediglich um die papierene Wirklichkeit handelt, die faktische kann noch einmal ganz anders aussehen. Wie steht es mit der Idee der sozialen Bewegung in der Diakonie, unabhängig von vorhandenen oder nicht vorhandenen Leitbildformulierungen? 2006 ist ein Diakonie-Text erschienen mit dem aussagekräftigen Titel: „Kirchliche Soziale Arbeit und soziale Bewegung – eine Nichtbeziehung?“ (Diakonie Texte 12/2006). Diakonie und soziale Bewegung scheinen also eher ein Gegenüber zu sein. Daher geht Franz Segbers genau der richtigen Frage nach, wenn er sich in seinem Vortrag, der der Publikation zugrunde liegt, mit der Diakonie als soziale Bewegung beschäftigt. Segbers These lautet:

„Es reicht nicht aus, die halbierte Modernisierung der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungsfunktion lediglich durch eine Professionalisierung der anwaltschaftlichen Funktion zu überwinden. (…) Erst wenn die Diakonie sich zivilgesellschaftlich definiert, kann sie in angemessener Weise auf die neue Sozialstaatlichkeit reagieren (…) Eine Diakonie, die nicht steckengeblieben ist in einer halbierten Modernisierung, wird zivilgesellschaftliches Engagement mit dem Ziel fördern, demokratische Strukturen zu beleben und Ausschlussprozesse zu verhindern“ (Franz Segbers: Diakonie als soziale Bewegung, Diakonie Texte 12/2006, S. 13, 13, 15).

Aus Mario Junglas‘ Plädoyer kann man zudem schließen, dass es mit der Caritas als soziale Bewegung auch noch nicht so weit sein kann, denn er wirbt schließlich leidenschaftlich dafür, sich dementsprechend neu auszurichten.

„Dass die Caritas (Teil der) soziale(n) Bewegung, „Bewegungsorganisation“ sein soll, ist eine alte, noch einzulösende Forderung ihres Selbstverständnisses. Ohne euphorisch zu sein, kann man feststellen: Die Zeiten waren dafür noch nie so günstig wie heute“ (S. 82).

Wie gesagt: eine lesenswerte Inspiration!

Dossier Gemeinwesendiakonie upgedatet

Ich habe das Dossier Gemeinwesendiakonie mal ein bisschen durchgeräumt und ergänzt. Auf zwei neu aufgenommene Publikationen möchte ich dabei besonders hinweisen:

Anregungen und Anleitungen, wie eine Kirchengemeinde den eigenen Stadtteil (neu) entdecken und wahrnehmen kann, bietet die Arbeitshilfe Gemeinde aktiv im Stadtteil, herausgegeben von Volker König und Karen Sommer-Loeffen (Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe). Fundiert und lustmachend richtet sich diese Arbeitshilfe vor allem an Menschen in Kirchengemeinden, die mit der Stadtteilerkundung loslegen wollen (und nicht erst noch davon überzeugt werden sollen) und sich das nötige Know-How dazu aneignen möchten.

Volker König/Karen Sommer-Loeffen (Hg.): Gemeinde aktiv im Stadtteil, Reihe Zukunftswissen, eteos, Düsseldorf 2011, 9,90 Euro, ISBN 978-3-87645-198-5, 80 Seiten.

Die zweite lesenswerte und hilfreiche Publikation ist vom Comenius-Institut herausgegeben und beschäftigt sich mit einem Aspekt der Gemeinwesenorientierung, der leider oft zu kurz kommt: der Bildung. Die Veröffentlichung Evangelisches Bildungshandeln im Gemeinwesen, „will Begründungszusammenhänge für evangelisches Bildungshandeln im Gemeinwesen aufzeigen, es in den gesellschaftlichen und kirchlichen Bildungsdiskussionen verorten sowie ‚Gemeinwesen‘ und ‚Gemeinwesenorientierung‘ als Leitbegriffe für Bildungshandeln beschreiben“ (S. 7). Die zusammenfassenden Thesen (S. 55-58) bringen die Möglichkeiten und Grenzen hervorragend auf den Punkt. Lesen!

Matthias Spenn/Friedrun Erben/Perter Schreiber: Evangelisches Bildungshandeln im Gemeinwesen. Eine Veröffentlichung des Comenius-Institut. Schnittstelle Schule – Impulse evangelischer Bildungspraxis 3, Münster 2008.

Gemeindediakonie kompakt

Wer eine fundierte Einführung in die Hintergründe der Gemeindediakonie sucht, sei der folgende Text ans Herz gelegt: Gemeindediakonie – Chance für ein lebendiges Gemeindeprofil von Arnd Götzelmann, erschienen im Pfälzischen Pfarrerblatt.

Arnd Götzelmann bietet mit diesem Text quasi einen Crashkurs in die wichtigsten Facetten der Gemeindediakonie. Neben zentralen Grundfragen (wie dem Verhältnis von Glaube und Werken, der Begründung der Diakonie als Grundfunktion von Kirche und Gemeinde oder den biblisch-theologischen Motiven diakonischen Handelns), gibt er einen Überblick über die handelnden Akteure und skizziert vier Konzepte der Gemeindediakonie, um darzustellen, dass Gemeindediakonie programmatisch an ganz unterschiedlichen Stellen ansetzen kann. Gemeindediakonie kann gemeindepädagogisch verortet sein (Ruhfus), bei Initiativ- und Selbsthilfegruppen ansetzen (Kleinert), die Kindertagesstätte als evangelisches Nachbarschaftszentrum in den Mittelpunkt rücken (Götzelmann) oder sich als solidarische Gemeinde aus dem Gottesdienstgeschehen her verstehen (Zellfelder).

Solch eine kompakte Einführung ist äußerst hilfreich, wenn man sich mit der Frage nach der diakonischen Dimension in der Gemeinde beschäftigen will. Götzelmanns Artikel ist sowohl für die Diskussion im Presbyterium/Kirchenvorstand sehr gut geeignet, als auf für die Annährung an die Gemeindediakonie von Seiten der Mitarbeitenden aus diakonischen Einrichtungen und Werken, die sich oft erst in diese – für sie eher fremde – Form von Diakonie hinein denken müssen.

Zum Abschluss gibt Götzelmann noch vier gemeindediakonische Grundhaltungen mit auf den Weg: Diakonie als zentrale Aufgabe der Gemeinde betrachten, Kirchengemeinde und Gemeinwesen wahrnehmen, Verbündete suchen und ein „Gespür für Topos und Kairos entwickeln“. Diesen letztgenannten Hinweis möchte ich einmal hervorheben und zitieren ihn hier in Gänze:

„Gespür für Topos und Kairos entwickeln: Jede Gemeinde hat einen spezifischen Ort (griech. topos), eine besondere Lage, ein einzigartiges Profil. Der Blick der Zuständigen für diesen besonderen Topos der eigenen Gemeinde ist zu schär­fen. Das kann Vorteile wie Nachteile, Chancen und Hemmschuhe, besondere Aufgaben und Mög­lichkeiten umfassen. Zudem benötigt die Gemeindediakonie das Gefühl für den Kairos, für die günstige Gelegenheit bzw. den geeigneten Zeitpunkt. Nicht alle Gemeinden müssen alles machen. Vielmehr gibt es passende Zeiten für neue Projekte oder Beendigung alter: ein Kairos kann ein Ju­biläum sein, ein besonders ausgerufenes Jahr, wie das der Freiwilligen der Menschen mit Behinderungen, eine besondere Gabe oder Idee eines Gemeindeglieds oder ein aktueller besonders problematisch erscheinender Unglücks- oder „Sozialfall“ in der Gemeinde.“

Kirche findet Stadt

Kirche findet Stadt – das ist nicht nur ein geniales Wortspiel, sondern auch ein ökumenisches Kooperationsprojekt zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Funktion von Kirche(ngemeinden) – und seit Kurzem hat das Projekt eine eigene Online-Präsenz.

Worum geht’s?

„[…] die evangelische und die katholische Kirche [wollen] zusammen mit ihren jeweiligen Wohlfahrtsverbänden, Diakonisches Werk der EKD und Deutscher Caritasverband, die Rolle von Kirche in ihren unterschiedlichen Facetten als Akteur der integrierten Stadtentwicklung untersuchen und weiterentwickeln.“

Es geht um all das, was sich hier im Blog unter dem Stichwort Gemeinwesendiakonie abspielt und was immer mehr Gemeinden und diakonische Einrichtungen für sich entdecken: ein gemeinwesenorientiertes Diakonie- und Gemeindeverständnis, das – allgemein gesprochen – die zivilgesellschaftliche Rolle von Kirche stärkt und – etwas konkreter gesagt – sich in einer (Mit-)Verantwortung für Stadtteil, Quartier oder Dorf ausdrückt.

Alle weiteren Informationen gibt es auf der Internetseite. Auf einen wichtigen Nutzen möchte ich aber noch besonders hinweisen: Das Projekt Kirche findet Stadt will auch zur Netzwerkbildung beitragen – nicht nur der kirchlichen Netze in die Zivilgesellschaft, sondern auch der Netze der gemeinwesenorientierten Gemeinden und Einrichtungen untereinander. Das viel beschworene Erfahrungswissen kann nur genutzt werden, wenn es geteilt wird. Dazu muss man sich aber erst einmal kennen (bzw. zumindest von einander wissen). Die KfS-Internetseite stellt insgesamt 24 Referenzstandorte und 12 Regionalknoten vor.

Heinrich Grosse wies schon vor einigen Jahren in seiner Studie über armutsorientierte Kirchengemeinden auf das Problem der Isolation und mangelnden Vernetzung eben dieser Kirchengemeinden hin:

„Manche Kirchengemeinden, die sich in Armutsbekämpfung engagieren, sind (z.B. innerhalb des Kirchenkreises) relativ isoliert. Deshalb sollte ein stärkerer Erfahrungsaustausch unter ihnen stattfinden und geprüft werden, inwieweit Formen der Vernetzung zur Verbesserung der Arbeit beitragen können“ (Heinrich Grosse: „Wenn wir die Armen unser Herz finden lassen…“ – Kirchengemeinden aktiv gegen Armut und Ausgrenzung, epd-Dokumentation 34/2007, S. 31).

Nun hat man schon einmal 36 Ansprechpartner. Ein sehr guter Anfang!

Handbuch Ehrenamt

Die Diakonie in Düsseldorf hat ihr umfangreiches Ehrenamtshandbuch überarbeitet und in der nun dritten Auflage herausgegeben. Es will Leitfaden, Standardbeschreibung und Nachschlagewerk sein (S. 5). und wird diesem Anspruch mehr als gerecht. Die Autorin Ursula Wolter hat (gemeinsam mit ihren Co-Autoren) eine Arbeitshilfe der Premiumklasse vorgelegt.

13 Schritte eines Freiwilligenmanagements werden vorgestellt – von „Aufgaben beschreiben“ über „begleiten und beraten“ bis zum „Abschied nehmen“ – und mit einer Vielzahl hilfreicher Modelle unterfüttert. Neben all den Klassikern zu Gruppenphasen, Konfliktmodellen oder Typen von Ehrenamtlichen finden sich in dem Handbuch auch Gesprächsleitfäden zu den verschiedensten Anlässen, ein Zehn-Minuten-Qualitäts-Test und zahlreiche Checklisten.

Das Besondere dieses Handbuchs ist aber, dass es sich direkt auf das Ehrenamt in Kirche und Diakonie bezieht. Das geschieht überaus gekonnt. So findet sich in diesem Handbuch auch Einiges, was über die Vielzahl an Arbeitshilfen zu diesem Thema hinausgeht. Ein eigenes Kapitel zum Ehrenamt in Kirche und Diakonie (S. 84-90), Praxisbeispiele für den diakonischen und den kirchlichen Teil (S. 92-102, S. 93-107), Reflexionen zur spirituellen Dimension ehrenamtlichen Engagements (S. 35ff, S. 86f, S. 90).

Einige Abschnitte beziehen sich direkt auf die Düsseldorfer Situation, es ist aber trotzdem eine durch und durch universell einsetzbare Arbeitshilfe. Interessant ist zum Beispiel der Abschnitt „Initiativen unter dem Dach eines Wohlfahrtsverbands“ (S. 65-66):

„Als Verband der Wohlfahrtspflege schafft die Diakonie Düsseldorf fortlaufend unterschiedliche Zugangswege zum Ehrenamt. Wie das Freiwilligenmanagement ehrenamtliches Engagement ermöglicht, ist hinreichend beschrieben worden, nicht aber, wie es sich mit dem Engagement verhält, das Bürgerinnen und Bürger unaufgefordert anbieten, weil sie einen Bedarf im Gemeinwesen sehen. Dazu entwickelt die Diakonie Düsseldorf Konzepte und begleitende Strukturen, wie eine engagierte Gruppe oder eine Initiative in einen Wohlfahrtsverband integriert oder mit ihm assoziiert werden kann und wie solche Verbindungen mit den Fachkonzepten vereinbart werden können.“ (S. 65)

Und weil das Ganze aus dem Hause der Diakonie in Düsseldorf kommt, ist es auch noch äußerst ansprechend gestaltet.

Ursula Wolter: Ehrenamt. Das Qualitätshandbuch Freiwilligenmanagement am Beispiel Diakonie und Kirche, Diakonie Düsseldorf Verlag, 29,90 €.

Co-op-er-a-tion!

Ich bin mit der Semsamstraße aufgewachsen und muss anerkennend sagen: Ich habe da eine Menge gelernt. Nicht nur den Unterschied zwischen „hier“ und „dort“ oder zwischen „oben“ und „unten“, auch der Zahlenraum von 1 bis 10 wurde eingeübt, auf die Tücken, dass man ein „M“ und ein „W“ leicht verwechseln kann, wurde hingewiesen (sehr hilfreich wenn man es käuflich erwerben will!) und die Tatsache, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn zwei Männer zusammen wohnen (?), hat sicherlich auch einen nicht zu unterschätzenden Wert für das gesellschaftliche Zusammenleben.

A propos Gesellschaft: Ein Trend ist ja gerade das Urban Gardening – und ich bin davon richtig begeistert. Ist aber ein alter Hut, denn in einem vielleicht 30 Jahre alten Sesamstraßen-Clip (der amerikanischen „Muttersendung“, der Sesame Street) kannte man das bereits. Dabei ist das gemeinsame Gärtnern nur der Aufhänger, denn eigentlich geht es um das dahinter liegende Motiv: sich einbringen und sein Umfeld gestalten – und zwar gemeinsam. Die Sesamstraße hämmert in unsere Köpfe:

cooperation – makes it happen
cooperation – working together

Also ein kleines diakonisches Education-Programm. Bitte nicht anschauen, wenn man einen Ohrwurm gerade nicht gebrauchen kann. Ich trommel und summe schon den ganzen Tag vor mich hin…

Danke an die Leute vom Prinzessinengarten für den Hinweis auf dieses Video!

Manamana.

Heilsames Singen

Die Evangelische Kirche im Rheinland hat ein Werkbuch rund ums Singen herausgebracht. Es vereint zwei Vorteile: es ist richtig gut und es ist völlig kostenlos. 2012 ist das Jahr der Kirchenmusik und die rheinische Kirche bietet zum Auftakt ihrer Kampagne S!ngen – jede Stimme zählt eben dieses Werkbuch an.

Einen Text in dem Werkbuch fand ich besonders anregend: Elisabeth Schubarth beschreibt die heilsamen Aspekte des Singens (S. 99-103) – eine uralte Erkenntnis, die sich immer wieder bewahrheitet und die auch wissenschaftlich belegt ist. Der Artikel bietet einen guten Überblick über die Vielzahl an heilsamen Effekten des Singens, und ich wollte erst die wichtigsten diakonischen Dimensionen hier zusammenfassen. Aber das ist kaum sinnvoll, weil ich dann im Grunde jeden dritten Satz des Artikels hier wiederholen müsste.

Singen ist eine äußerst wirkmächtige Möglichkeit, ein Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen und – wenn es in Gemeinschaft geschieht – eine wunderbare Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe (zwei Effekte, die ja auch fürs Sporttreiben gelten). Aber Singen geht hierüber weit hinaus…

Mir ist beim Lesen noch einmal deutlich geworden, wie wichtig es ist, das Singen als Kulturgut, als Therapietool und als spirtuelle Ausdrucksform zu pflegen. Dazu beizutragen, dass viele Menschen mit dem Heilsamen des Singens in Berührung kommen, ist eine immens wichtige Aufgabe und gleichzeitig auch ein besonderer Wert von Kirche und Diakonie.

Wo zeigt sich diakonisches Profil?

Worin zeigt sich das konfessionelle Profil von Diakonie und Caritas? Eine oft gestellte Frage, die – auch wenn es auf den ersten Blick merkwürdig erscheint – gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ein großer Gewinn ist es daher, wenn man zunächst einmal die Suchrichtung bestimmt, um diese Frage zu beanworten. Anders gesagt: Wo sucht man denn nun sinnvoller Weise nach diakonischem Profil?

Michael N. Ebertz, Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg, schlägt sieben Dimensionen vor, in denen sich die Eigenart konfessioneller Einrichtung niederschlagen kann. Er bezieht sich dabei auf die Caritas, aber dies gilt natürlich ebenso für die Diakonie:

  • die Dimension der strukturellen Einbettung
  • die Dimension der individuellen Motivation
  • die Dimension der symbolischen Integration
  • die Dimension der interaktiven Gestaltung
  • die Dimension der religiös angeleiteten Methodik
  • die Dimension der kommunitären caritativen Kultur
  • die Dimension der christlichen Weisheit

(Michael N. Ebertz: Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat? Herausforderungen von Professionalität und Konfessionalität, Manuskript, o.J., S. 8-13).

Auf ähnliche Dimensionen habe ich auch in dem Beitrag unverwechselbar, erkennbar, unterscheidbar hingewiesen.

Feine Blogs

Eine diakonische Blogszene ist irgendwie nicht so recht existend. Seit dem ich blogge suche immer nach ähnlichen Projekten im Netz. Aber ich werde kaum fündig. Das ist schade, weil Blogs ein wunderbares Format sind. Ein Blogbeitrag breitet einen Gedanken aus, nicht mehr. Dies aber pointiert, personalisiert und – durch Verweise und Bezüge – in eine Debatte eingebettet. Viel mehr als bei anderen Formaten kann so eine gute Diskurskultur entstehen, in die man sich auch selbst aktiv einbringen kann.

Dass im diakonischen Bereich kaum gebloggt wird, ist allerdings merkwürdig, wenn man bedenkt, wie groß dieser Sektor ist: 28.000 diakonische Einrichtungen, 450.000 hautptamtliche und 700.000 ehrenamtliche Mitarbeitende. Meine Vermutung: Es gibt zwar über eine Million diakonisch Tätige, aber es gibt eben keine diakonische Community, keine entsprechende Szene. Deshalb wohl auch keine nennenswerte diakonische Blogszene. Das, was man findet, sind meist Corporate Blogs. Ich habe nichts gegen Unternehmen, die bloggen, aber im Grunde wird da einfach nur das technische Format des Blogs genutzt, um einen weiteren Kanal für die Organisationskommunikation zu haben. Streng genommen sind das kein Blogs im eigentlichen Sinne. Es werden lediglich Unternehmensinfos abgesetzt, ohne einen wirklichen Debattenbeitrag zu leisten.

Auffallend ist auch, dass es zwar eine Vielzahl theologischer wie sozialwissenschaftlicher/-politischer Blogs gibt, dass es aber wenig gegenseitige Bezüge gibt. Theologische Blogs, die aus ihrer Sicht Soziales kommentieren wie auch „soziale“ Blogs, die eine irgendwie geartete theologische Dimension aufweisen, sind Mangelware. Es sind – so zumindest meine Beobachtung – zwei Sphären. Und genau das ist auch ein klassisches Phänomen (nein: Problem!) der Diakonie: Das, was Diakonie gerade interessant macht, ist die gegenseitige Verwrungenheit von Sozialem und Theologischem (mal ganz platt gesagt). Und das, was in der Diakonie immer wieder zu kurz kommt, ist eben genau dies.

Wenn es denn schon keine explizit diakonischen Blogs gibt, so gibt es doch eine Menge an diakonisch relevanten Blogs. Daher möchte ich nun einige der Blogs empfehlen, die ich gerne lese und die mich – über Bande gespielt – immer wieder diakonisch inspirieren. Ab heute hat diakonisch.de also (endlich!) eine anständige Blogroll. Ich habe erst überlegt, die einzelnen Blogs zu kommentieren, aber ich habe schnell gemerkt, dass ich ihnen damit nicht gerecht würde. Außerdem macht unvoreingenommenes Selbststöbern ja auch viel mehr Spaß… Bitte schwenken Sie rüber auf die rechte Seite zur Blogroll, fahren Sie nicht zu schnell weiter, denn es gibt viel zu sehen! Et volià: Feine Blogs.

Anfassbare Alltagsspiritualität

Immer zur Adventszeit wird gerne darauf hingewiesen, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist (zum Beispiel hier oder hier), genauer gesagt der Inneren Mission, noch genauer: eine Erfindung von Johann Hinrich Wichern (und ganz genau: wahrscheinlich wurde der Adventskranz in Dänemark erfunden, einer der Wichernschen Brüder hat ihn wohl von dort importiert).

Wichern verfügte über eine gutes Maß an Genialität, was Ritualisierung und Inszenierung angeht. Und dem Adventskranz – ob er ihn nun ge- oder erfunden hat – hat er zu einer unglaublichen Wirkungsgeschichte verholfen. Was ich daran mag: Es ist etwas Handfestes und hat Alltagsrelevanz. Etwas euphemistisch könnte man sagen: Glaube zum Anfassen. Und gerade das ist nicht gering zu schätzen. Denn das, was den Protestantismus in besonderem Maße ausmacht, ist eben kaum anfassbar: Predigt und Kirchenmusik. Beides von (hoffentlich) hohem Niveau, aber eben auch von hoher Flüchtigkeit. Und daher ist ein Adventskranz nicht bloß ein Trockengesteck, sondern ein Stück greifbare Alltagsspiritualität.

Hierüber musste ich nachdenken, als ich dieses Jahr wieder die ganzen Meldungen im Netz las, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist. Und ich frage mich, was es noch in dieser Liga gibt. Mir ist leider kaum etwas eingefallen. Damit war ich allerdings nicht allein, denn eine (sehr) kleine Umfrage in meiner näheren Umgebung hat meine Ausbeute nicht erhöht.

Ich komme auf drei „Dinge“, die einen spirituellen Alltags-Griff haben: der Wichernsche Adventskranz (1839), die Losungsheftchen der Herrnhuter (1731) und die Perlen des Glaubens (1996) von Martin Lönnebo. Immerhin. Aber etwas mehr haptische Qualität täte dem Protestantismus sicherlich ganz gut.

P.S.: Ich lasse mich sehr gern eines Besseren belehren, falls ich da doch Einiges vergesssen haben sollte. Mir geht es um Folgendes: Etwas aus dem Bereich Alltagsspiritualität mit „Ding“-Charakter, entstanden im protestantischen Raum und mit einer gewissen Wirkungsgeschichte.

Inklusion vor Ort

Frisch aus der Druckerpresse und quietschgelb: der Kommunale Index für Inklusion, erschienen im Verlag des Deutschen Vereins, herausgegeben von der Montag Stiftung.

InklusionVorOrt„Das vorliegende Handbuch will vor allem eins: möglichst viele Menschen für das Thema Inklusion gewinnen. Es ist ein Praxisbuch, das viele Anregungen gibt, wie man sich aktiv an Inklusion beteiligen kann. Im Mittelpunkt des Buches stehen keine Antworten, sondern Fragen: Der eigentliche Index für Inklusion ist ein Fragenkatalog, d.h. eine Sammlung von Fragen, mit denen man unterschiedliche Themen rund um das große Thema Inklusion bearbeiten kann – alleine oder im Gespräch mit anderen.“ (S. 21)

Vorlage ist ein 2002 in Suffolk (UK) erschienener Inklusions-Index für die kommunale Ebene (Vincent McDonald/Debbie Olley: Aspiring to inclusion. A handbook for councils and other organisations, County Council, Suffolk), der wiederum zurückgeht auf den mittlerweile wohl recht bekannten Index for Inclusion für Schulen von Mel Ainscow und Tony Booth (2003 ins Deutsche übertragen von Ines Boban und Andreas Hinz; mittlerweile in etlichen Sprachen erhältlich).

Inklusion kann an verschiedenen Stellen ansätzen: beim Einzelnen, der mit anderen Menschen in seinem Umfeld in Beziehung tritt, bei den Mitarbeitern von Organisationen vor Ort und schließlich auch bei den Organisationen und Institutionen selbst. Dementsprechend gliedert sich der Index in drei Abschnitte:

  • Unsere Kommune als Wohn- und Lebensort
  • Inklusive Entwicklung unserer Organisation
  • Kooperation und Vernetzung in unserer Kommune

Insgesamt gibt es 40 Einzelthemen, die diesen drei Rubriken zugeordnet sind, für jedes Thema bietet der Index ein Dutzend Fragen. Je nach Situation und Kontext passen natürlich nicht sämtliche Fragen, aber sie bieten eine Fülle an Anregungen, die jeweiligen Themenbreiche auf inklusive Werte, Strukturen und Entwicklungsmöglichkeiten abzuklopfen. Die Gestaltung ist ausgesprochen angenehm, luftige Doppelseiten pro Thema (gut als Kopiervorlagen geeignet), der eigentliche Index ist gelb markiert, im Anhang gibt es noch eine sinnvolle Auswahl an (Moderations-)Methoden.

Die Fragen decken themantisch eine sehr breite Pallette ab. An der einen oder anderen Stelle habe ich dann auch den Eindruck, dass irgendwie alles, was „gut“ ist, Inklusion ist, und alles, was Inklusion ist, gut ist. Aber das geht mir bei diesem Thema häufig so. Dahinter verbirgt sich natürlich auch ein gewisses Problem. Denn sicherlich wird jeder dem Grundgedanken der Inklusion erst einmal zustimmen können. Aber so manche exkludierenden Strukturen sind ja nicht zufällig so, wie sie sind, sondern durchaus gewollt – und können daher auch nicht einfach durch wahrnehmungserweiternde oder kreativitätsfördernde Moderationsprozesse überwunden werden. Inklusion ist hoch politisch. Und so kommt es natürlich sehr darauf an, was man mit dem Index macht. Ich glaube, dass der Index vor allem dann seine volle Wirkung entfalten kann, wenn er als Grundlage für aktivierende Befragungen genutzt wird.

Eines ist er aber ganz sicher: eine lohnende Anschaffung.

UPDATE 2013-10-10: Die Online-Zeitschrift „Inklusion-online.net“ hat eine Schwerpunktausgabe zum Index für Inklusion herausgegeben.