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Was ist Diakonie? (#10)

Im diakonischen Bereich wird oft erwähnt, dass die Diakonie zwei wichtige Funktionen erbringe, nämlich Dienstleistung und Anwaltschaft – also das Anbieten sozialer Dienstleistungen und das anwaltschaftliche Eintreten für die Rechte Marginalisierter. Doch beschreibt diese Doppelfunktion wirklich hinreichend das Spektrum diakonischen Handelns? Fehlt da nicht was?

Das Funktionen-Doppel von Dientsleistung und Anwaltschaft trifft es in meinen Augen nicht so richtig. Dabei geht es mir gar nicht darum, dass beide Funktionen gerne und oft kritisiert werden – das Erbringen diakonischer Dienstleistungen führt unweigerlich zu der Kritik, dass die Diakonie eh nur das tue, was sie bezahlt bekomme und der Anwaltschaftlichkeit wird vorgeworfen, dass sie vor allem Eigeninteressen des Trägers diene; zudem müsse man fragen, woher eigentlich das Mandat zum anwaltlichen Tätigsein komme, es handele sich viel eher um ein „angemaßtes Mandat“.

Ich finde an dieser Doppelfunktion vor allem schwierig, dass sie de facto zu einem Dualismus wird: einerseits gibt es da die durchökonomisierte Dienstleistungserbringung, andererseits das gesellschaftspolitische „anwaltschaftliche“ Engagement der Diakonie, das gern als die „eigentliche“ diakonische Aufgabe angesehen wird. Die Anwaltsfunktion wird so zu einer Chiffre für all das Gute, Wahre und Schöne der Diakonie – bleibt damit allerdings auch diffus. Die (gesellschafts-)politische Funktion der Diakonie ist aber breiter und facettenreicher, als es der Begriff „Anwaltschaftlichkeit“ hergibt.

Anwaltschaftlichkeit muss daher meines Erachtens präzisiert werden. Zum einen spreche ich lieber von Interessenvertretung, das kommt mit etwas weniger Pathos daher. Und zum anderen braucht es über das Eintreten für die Interessen bestimmter Gruppen hinaus auch noch eine gesamtgesellschaftliche Funktion: das Bemühen um eine solidarische und gerechte Gesellschaft im Ganzen. Daher gefällt mir auch die Trias gut, die die Caritas immer wieder nutzt, um ihr Selbstverständnis zu beschreiben: Dienstleister, Anwalt und Solidaritätsstifter.

Die Solidaritätsstiftung explizit als dritte Funktion zu bennen, finde ich sehr einleuchtend. Zum einen schon allein deshalb, weil Dreiermodelle grundsätzlich mehr Eleganz haben als Zweiermodelle (bzw. de facto-Dualismen). Zum anderen aber auch, weil es eben einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Anwaltschaftlichkeit/Interessenvertretung und Solidaritätsstiftung gibt. Er liegt in dem, worauf sich diese beiden Funktionen beziehen: Bei Anwaltschaft/Interessenvertretung geht es immer um die Durchsetzung von Partikularinteressen, bei der Solidaritätsstiftung um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es sind zwei verschiedene Bezugspunkte.

Doch in meinen Augen fehlt da immer noch etwas. Es gibt es noch eine weitere, vierte Funktion, die bisher in der Reflexion über die Diakonie bisher kaum auftaucht: die Funktion des Gemeinschaftsbilders.

Der Begriff der Gemeinschaft ist manchmal etwas romantisch aufgeladen und gerade in kirchlichen und diakonischen Szenen hat er hin und wieder etwas merkwürdige Konnotationen – mir ist daher eigentlich der englische Begriff der Community etwas lieber, denn es geht um die ganze Breite dessen, was „Community“ sein kann: Gemeinschaften, Gemeinden, Gemeinwesen, aber auch Szenen oder Netze.

Die Funktion des Gemeinschaftsbilders / des Community-Buildings ist noch nicht durch die anderen drei Funktionen abgedeckt. Und in meinen Augen ist sie auch gerade für die Diakonie wesentlich. Die Diakonie hat eben auch die Funktion, zu verbinden und zu vernetzen, Sozialkapital aufzubauen und Zugehörigkeiten zu ermöglichen. Es geht um angemessene und gelingende Formen von Vergemeinschaftung, es geht darum, „Communities“ (mit) zu ermöglichen, (mit) zu pflegen, und (mit) zu entwickeln. Die Zugehörigkeiten zu „Communities“ und das Eingebundensein in ihnen ist eben nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern hat einen Wert in sich – sowohl für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft im Ganzen.

Interessant finde ich, dass ich auf die Funktion des Communty-Buildungs ja bereits in der Bratislava-Erklärung gestoßen bin (…wenn ich es recht sehe, ist diese auf osteuropäischen Erfahrungen aufbauende Erklärung bei uns völlig unbekannt – was schade ist!). Und in einem Blogbeitrag von Brigitte Reiser habe ich den Hinweis auf eine etwas anders formulierte Funktionen-Trias von Nonprofitorganisationen gefunden, die ebenfalls die Community-Dimension als grundlegend ansieht. Auch in Reisers erweitertem Modell (sie führt Beteiligung/Partizipation als vierte Dimension ein), bleibt die Community-Funktion selbstverständlich bestehen.

Gerade für die Diakonie ist die Gemeinschaftsfunktion im Grunde nicht neu (man denke nur an die Anstalten, Häuser und Wohngruppen, an Kommunitäten, Basisgemeinschaften und diakonische Gemeinschaften, aber auch an das (zaghafte) Experimentieren mit Genossenschaften. Als das war schon immer nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Grundanliegen der Diakonie, deshalb erstaunt es mich ein wenig, dass ein Community-Buildung bisher nicht als eigenständige Grundfunktion von Diakonie diskutiert wird.

Man könnte auch einmal darüber nachdenken, ob nicht gerade die konfessionellen Wohlfartsverbände ein besonderes Interesse an der Community-Funktion haben müssten. Zum einen ist das Christentum keine individuelle Erlösungsreligion, sondern eine auf Gemeinschaft angelegte Religion, und zum anderen ist die ganze Kirchen- und Diakoniegeschichte ja voll von Erfahrungen und Experimenten mit Sozialformen – erfolgreichen und gescheiterten.

tl;dr
Diakonie ist nicht nur Dienstleister, Anwalt und (nicht zu vergessen!) Solidaritätsstifter, sondern auch Gemeinschaftsbilder.

Spirituelle Anamnese

Im Zusammenhang mit der Profilierung diakonischer Arbeit gibt es immer wieder die Forderung, Religion/Spiritualität/Glaube stärker zu thematisieren. Man kann dabei grob zwei Ansätze unterscheiden: Verkündigung und Coping. Das muss sich nicht ausschließen, aber es sind halt zwei verschiedene Intentionen.

Bleiben wir beim Coping: Der Glaube kann eine wirksame gesundheitsförderliche (oder sagen wir besser: eine lebensförderliche) Ressource sein. In diesem Sinne kann Spiritualität gerade in Beratungskontexten sinnvoll zum Thema gemacht werden.

Nun gibt es immer den Einwand, dass Religion nicht verzweckt werden dürfe, und Copingansätze sind natürlich sehr funktional gedacht. Ja, wichtiger Hinweis, aber man sollte das auch nicht überbewerten. Um nun zu ergründen, ob und inwiefern spirituelle Ressourcen genutzt werden können, bietet sich eine „spirituelle Anamnese“ an. Dazu braucht es gute Fragen.

Harald G. Koenig, amerikanischer Psychiater und Leiter eines universitären Zentrums für Spiritualität, Theologie und Gesundheit, schlägt vier Fragen vor. Man muss sie für die Soziale Arbeit etwas umformulieren, da sie aus dem medizinischen Kontext stammen, aber das dürfte ja kein Problem sein.

„1. Geben Ihnen Ihre religiösen bzw. spirituellen Überzeugungen Trost (Comfort), oder verursachen sie Stress?

2. Haben Sie Überzeugungen, die einen Einfluss (Influence) auf ihre medizinischen Entscheidungen haben könnten?

3. Sind Sie Mitglied (MEMber) einer religiösen oder spirituellen Gemeinschaft? Wenn ja, erhalten Sie von ihr Unterstützung?

4. Haben Sie weitere (Other) spirituellen Bedürfnisse, um die sich hier jemand kümmern sollte?“ (Harald G. Koenig: Spiritualität in den Gesundheitsberufen. Ein praxisorientierter Leitfaden, Stuttgart 2012, S. 48).

Das Instrument nennt Koenig dann CSI-MEMO-Schema. (Unter (amerikanischen) Medizinern und Psychologen gibt es halt dieses krampfhafte Bemühen, lustige Abkürzungen für die eigenen Tools zu entwickeln, sei’s drum…).

Und Koenig setzt noch einen drauf, er bietet auch noch eine „Ein-Frage-Methode“ an:

„Haben Sie spirituelle Bedürfnisse oder Sorgen im Zusammenhang mit Ihrer Gesundheit?“ (ebd., S. 50).

Wenn man ein bisschen sucht, findet man einige solcher Tools zur „spirituellen Anamnese“. Ich halte davon recht viel.

Spiritualität der Stadt (1): Stadtgebet

Der Beginn einer kleinen Serie zu Aspekten urbaner Spritualität. In der letzten Zeit bin ich auf einige konkrete Ansätze gestoßen, die man alle unter dem Titel „Spiritualität der Stadt“ zusammenfassen könnte. Und all diese Ideen sind interesanter Weise deutlich diakonisch grundiert (jedenfalls in meinen Augen). Deshalb möchte ich sie in loser Reihenfolge vorstellen. Ich beginne mit der Idee des Stadtgebets, ein „wöchentliches Tagezeitengebet“ mit Stadt-Bezug samt städtischer Gebetsgemeinschft.

Ich habe es durch Zufall entdeckt: Stadtgebet – Ermutigung zu einer neuen Gebetsform, von Hans-Heinz Riepe, mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich.

Das Stadtgebet ist ein halbstündiges, wöchentliches Abendgebt (samstags 18:30), mit einer klaren, einfachen Form.

„Themen, Probleme, freudige oder traurige Anlässe und Anliegen der Menschen sollen im „Stadtgebet“ nicht diskutiert, sondern im Gebet vor Gott gebracht werden.“ (S. 19)

Jedes Stadtgebet steht unter einem Thema, das einen Ortsbezug hat. Die Form erinnert mich ein bisschen an das Politische Nachtgebet, aber das Stadtgebet bezieht sich in erster Linie auf die konkreten Anliegen der Menschen vor Ort und scheint mir stärker liturgisch ausgerichtet zu sein.

Dieses Buch gibt die Erfahrungen mit einer neuen Form der Tagzeitenliturgie wieder. „Neu'“an dieser Form sind nicht die einzelnen Elemente (…). Das „neu“ bezieht sich zunächst einmal auf unsere Stadt und dann auch auf den spezifischen Aspekt des „Stadt“gebets. Reizvoll neu waren unsere Erfahrungen mit dem „Sitz im Leben“, den dieses Gebt für die Stadt und in der Stadt hat. Dass ein Gebet Veränderungen in den Gemeinden auslöst und Auswirkungen bis in die Öffentlichkeit unseres Gemeinwesens hinein hat, war bisher jedenfalls keine alltägliche Erfahrung. (…) Ganz aus dem Evangelium und ganz aus der Situation heraus zu beten ist das Anliegen, gemäß der Aufforderung beim Propheten Jeremia (29,7): „Suchet der Stadt Bestes, in die ich euch geführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt auch euer Wohl“ (S. 7).

Das „Stadtgebet“ greift die Tradition des Tagzeitengebets auf, freilich als wöchentliches, nicht als tägliches Gebet. Hans-Heinz Riepe schildert daher in seinem Buch auch einen Aspekt, der für das praktische Gelingen wie für das theologische Verständnis einer solchen Gebetsform wichtig ist:

Da wir hier keine Klostergemeinschaft haben, die den Kern der Betenden stellen könnte, müssen wir in Schwerte eine „Gebetsgemeinschaft Stadtgebet“ neu gründen. Sie soll sicherstellen, dass an jedem Samstagabend das Stadtgebet stattfinden kann. Konkret gesprochen müssten, damit an 50 Samstagen im Jahr jeweils 20 Beter versammelt sind, sich mindestens 250 Gemeindemitglieder verpflichten, 4mal im Laufe des Jahres am Stadtgebet teilzunehmen. Nur wenn die Zahl erreicht wird, macht es Sinn, mit dem Gebet überhaupt zu beginnen, da es sich sonst nach allen Erfahrungen nichtz durchträgt (S. 19).

Mir gefällt das sehr. Und zwar deshalb, weil hier zwei gute Ideen zusammenkommen und beide ernst genommen werden: lokaler Bezug bzw. urbaner Kontext und liturgisch klare Form, inklusive Gebetsgemeinschaft.

Solch eine Gebetsform kann eine Bereicherung für gemeinwesendiakonische Ansätze sein. Und umgekehrt: Gemeinwesendiakonisches Engagement bereichert solch eine liturgische Form durch die Kenntnis der konkreten Anliegen des Ortes. Eine nicht zu lang dauerende und klare Form bietet zudem die Chance, dass Menschen, die bisher wenig oder keine kirchlichen Bezüge haben, Kirche und Gebet (neu) entdecken können.

Jeki-Ritter

Jeki – das ist die Abkürzung für das Projekt Jedem Kind ein Instrument.

„Der Name ist Programm: Jedem Grundschulkind des Ruhrgebiets soll die Möglichkeit offen stehen, ein Musikinstrument zu erlernen, das es sich selbst ausgesucht hat. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Musizieren der Kinder – von der ersten bis zur vierten Klasse. […] Jedem Kind ein Instrument“ ist ein Angebot, die Welt der Musik zu entdecken. Es richtet sich explizit an alle Kinder: Um die Integration unterschiedlichster Gruppen zu gewährleisten, gibt es Möglichkeiten der Beitragsbefreiungen.“

Ich habe keine konkreten Erfahrung mit dem Programm, ich kenne nur die Idee. Und die finde ich genial. Unabhängig von kulturellem Hintergrund und finanziellen Mitteln sollen Kinder die Möglichkeit haben, ein Instrument zu lernen. In der Regel lernt derjenige ein Instrument, in dessen Familie bereits musiziert wird. Gerade deshalb ist es wichtig, dass möglichst alle Kinder die Chance bekommen, in Berührung mit einem Instrument zu kommen. Es geht dabei nicht nur um musikpädagogische Ziele (die anscheinend auch kritisch gesehen werden), sondern es geht gerade auch darum, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.

Was diese Idee in meinen Augen so wertvoll macht, sind die Erfahrungen, etwas selbst zu machen, etwas zu können, etwas zu gestalten. Ich erkenne dabei: Die Welt ist formbar. Ich bin Urheber. Ich äußere mich und werde gehört. Ich lerne etwas zu wollen.

Jeki ist natürlich auch mit Problemen konfrontiert. Vor allem sind es Ressourcen- und Nachhaltigkeitsprobleme, gerade dann, wenn man das Konzept über das Ruhrgebiet hinaus flächendeckend installieren will. Im aktuellen rot-grünen NRW-Koalitionsvertrag wird die Idee, Jeki auf ganz NRW auszuweiten, skeptisch beurteilt. Dort heißt es:

„Das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ soll überprüft werden. Eine Ausweitung auf ganz Nordrhein-Westfalen ist in der ursprünglichen Ausrichtung des Projektes und der aktuellen finanziellen Lage nicht leistbar. Da musikalische Früherziehung nachweislich einen positiven Einfluss auf Kinder hat, wollen wir ein Konzept für NRW entwickeln, das auf den vielfältigen Ansätzen im Land aufbaut und an dem sich Kitas, Grundschulen und freie Träger beteiligen können.“ (NRWSPD – Bündnis 90/Die Grünen NRW: Koalitionsvertrag 2012 – 2017, S. 160).

Das Jeki-Anliegen ist auch ein kirchliches Anliegen: Teilhabe ermöglichen, Kulturgut pflegen und weitergeben, Selbstwirksamkeit erfahren, in Gemeinschaft die Welt gestalten. Kirchengemeinden können von Jeki profitieren, Jeki kann von Kirchengemeinden profitieren.

Zum Beispiel könnten nordrhein-westfälische Kirchengemeinden der Landesregierung ihre Ressourcen anbieten: Räume und Leihinstrumente. Oder sie könnten (flächendeckende) Angebote für die Kinder machen, die Jeki durchlaufen haben, aber weitermachen wollen. Dort, wo es Jeki nicht gibt, können Kirchengemeinden etwas Ähnliches aufziehen. Know How ist zum Teil da, die Infrastruktur sowieso. Es gibt engagierte Leute in den Gemeinden, die nur allzu gern eine „richtige“ Aufgabe hätten. Man kann sich natürlich auch einfach von dem Jeki-Gedanken anregen lassen und etwas Ähnliches machen, neben Musik gibt es ja noch andere Möglichkeiten kultureller Teilhabe.

Diakonischer geht’s nimmer. Und die Rolle des Jeki-Ritters wäre nicht die schlechteste für eine diakonische Kirche.

Glaubenssätze

Seit einigen Tagen ist die neue Image-Kampagne der Diakonie am Start. Sie hat den Titel In der Nächsten Nähe und läuft in diesem und im kommenden Jahr.

„Sie zeigt, was Diakonie glaubwürdig und wesenhaft ausmacht und zwar jenseits aller tagespolitischen Bezüge und Diskussionen. Dazu wurden die Menschen befragt, die Diakonie im Alltag in den vielen bundesweiten Einrichtungen, Diensten, Verbänden und Unternehmen verkörpern: die Mitarbeitenden.“

Damit hebt sie sich deutlich von der Kampagne Mitten im Leben (2007/2008) ab, in der die Mitarbeitenden schematisch und schemenhaft im Hintergund blieben. Dass die Mitarbeitenden nun in dieser Deutlichkeit nach vorn rücken, ist gut und angemessen. Gleichzeitig stehen sie aber nicht im Vordergrund, die fünf Motive stellen die Beziehung zwischen den abgebildeten Menschen dar. Das ist stimmig.

„Glaubwürdigkeit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort für die neue Kampagne: Die Kampagne gewährt reportageartige Einblicke in Arbeitsfelder der Diakonie, sie zeigt tatsächliche Mitarbeitende, wirkliche betreute Menschen, wahre Beziehungen, reale Örtlichkeiten und echte Gefühle. Teilweise arbeiten die abgebildeten Menschen auf den Plakaten seit Jahren zusammen. Nichts an dieser Kampagne ist in irgendeiner Weise künstlich, beschönigt oder gestellt, nicht einmal die Zitate, die nur sprachlich geglättet wurden.“

Und die fünf Zitate gefallen mir wirklich gut. Sie lauten:

„Ich glaube, kein Lebensabend sollte dunkel sein.“

„Ich glaube, dass Glück keine Behinderung kennt.“

„Ich glaube, dass Heimat im Herzen beginnt.“

„Ich glaube an die Stärken der Schwächsten.“

„Ich glaube, dass Menschlichkeit das wertvollste Medikament ist.“

Komplexes einfach rüberbringen ist eine hohe Kunst. Und wie will man deutlich machen, dass Diakonie etwas mit Glauben zu tun hat, ohne ein Kreuz aufzuhängen oder eine Bibel ins Bild zu rücken? Schwierig. Hier gelingt es auf subtile Art. Es gibt keine religiösen Symbole auf den Motiven (um nicht falsch verstanden zu werden: Ich mag religiöse Symbole, sehr sogar, aber auf inszenierten Motiven wirken sie oft deplaziert und aufdringlich). Stattdessen Glaubensaussagen: Jedes Statement beginnt mit „Ich glaube…“.

Die Glaubensaussagen beziehen sich auf den konkreten Kontext der diakonischen Arbeit. Auch das ist gut, denn es gibt kein allgemeingültiges, auf alle Arbeitsfelder zutreffendes diakonisches Profil. Diakonisches Profil ist immer kontextabhängig, Diakonie entsteht im Handeln und Deuten, also konkret. Schaut man sich die Sätze genauer an, merkt man, wie gehaltvoll sie sind (und dass sie gut formuliert sind). Induktive Theologie – das ist in meinen Augen genau der richtige Ansatz, „diakonisch“ Theologie zu treiben.

Woran glaube ich eigentlich in meinem diakonischen Handeln? Von welchen Glaubenssätzen lasse ich mich leiten? Was wirkt da tief in mir drin, das letztlich meine Fachlichkeit bestimmt? Mentale Modelle sind immer stärker und wirkmächtiger als Fachkonzepte und Einrichtungsleitbilder. Das Ganze ist daher für mich nicht nur eine Plakatkampagne, sondern stellt auch eine didaktisch gute Idee dar, die man leicht aufgreifen kann: Einfach mal die Mitarbeitenden fragen, woran sie glauben und welche Bedeutung dies für ihre Arbeit hat.

Daher finde ich es schade, dass man diese fünf Aussagen rahmt, sie wieder einfangen will mit dem doch recht pastoral anmutenden Vers „In der Nächsten Nähe“. Ich verstehe, dass eine Kampagne einen Claim braucht. Aber die zitierten Glaubensaussagen der Mitarbeitenden gehen über das Motiv der Nähe weit hinaus. Da haben wir dann doch wieder ein deduktives Theologietreiben. Und das geht so: Diakonie ist Nächstenliebe – und deshalb suchen wir jetzt mal Aussagen, die zu Nächstenliebe passen. Das, was man dann gefunden hat, ist komplexer und tiefgründiger als „Nähe“ und „Zuwendung“. Man tütet es dann aber theologisch („Nächstenliebe“) bzw. marketingmäßig („In der Nächsten Nähe“) wieder ein.

Und noch eine Sache sollte man überdenken: Warum hat man für die Plakatreihe vier weibliche und einen männlichen Mitarbeitenden gewählt? Nun, man könnte darauf antworten, dass dieses quantitative Verhältnis exakt der Situation in der Diakonie entspricht (siehe hier, S. 10). Ungeschickt finde ich das trotzdem. Und was sagen wir dazu, dass der männliche Mitarbeiter – natürlich – über den höchsten Bildungsabschluss verfügt? Irgendwie nicht so richtig durchgegendert…

Trotzdem ist es eine gute Kampagne.

Siehe auch meinen Kommentar Endlich mehr Männer und meine Beiträge in der Rubrik „Kampagnen“.

Die Wahrnehmung entdiakonisieren

Die Pastoraltheologie hat eine ganze Ausgabe dem Thema Inklusion gewidmet (Pastoraltheologie, 101. Jg., H. 3, 2012). Und an einer Stelle bin ich hängen geblieben: Erst habe ich mich ein bisschen darüber geärgert, dann habe ich es verstanden – um es dann richtig gut zu finden!

Es geht um Folgendes: Ulf Liedke widmet sich der Frage, wie Menschen mit Behinderungen im Gemeindeleben vorkommen können – und zwar als Gemeindeglieder, nicht als „Behinderte“. Seine These: Es bedarf in den Kirchengemeinden einer dringenden Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen (und ich ergänze: aller Menschen, die in irgendeiner Weise als „benachteiligt“, „marginalisiert“ oder „arm“ gelten):

Mein Plädoyer für die Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen bedeutet deshalb nicht, die diakonische Dimension gemeindlichen Handelns zu verabschieden. Vielmehr geht es darum, nicht in die Wahrnehmungsfalle zu tappen, bei der ‚Behinderung‘ beinahe zwangsläufig mit ‚Diakonie‘ assoziiert wird. (…) Menschen mit Behinderung (…) sind Glieder und nicht Klienten der Gemeinde. Die ungeteilte Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist keine Einbahnstraße, die nur für Hilfstransporte zugelassen wäre“ (Ulf Liedke 2012: 82).

Entdiakonisierung. Ein neues Wort. Ich habe mich erst darüber geärgert, weil Diakonie natürlich mein Anliegen ist. Ich möchte ja, dass Gemeinden diakonischer werden. Da ist so ein Wort kontraproduktiv – als wenn eine Diakonisierung etwas Schlechtes wäre. Ist sie nicht! Inhaltlich fand ich die Gedanken durchaus gut, auch die Formulierung mit der Hilfstransporte-Einbahnstraße gefiel mir. Erst beim mehrmaligen Lesen fiel mir dann das Entscheidende auf: Liedke spricht von einer Entdiakonisierung der Wahrnehmung! Augen auf beim Lesen hilft.

Entdiakonisierung der Wahrnehmung. Von der Sache her ist diese Forderung nicht neu. Genau das war es, wofür sich Ulrich Bach bereits vor dreißig Jahren vehement eingesetzt hat. Aber die Formulierung Entdiakonisierung der Wahrnehmung von Ulf Liedke wird in den nächsten Jahren in der Diakonie noch Karriere machen. Hoffen wir es!

Ulf Liedke: Menschen. Leben. Vielfalt. Inklusion als Gabe und Aufgabe für Kirchengemeinden, Pastoraltheologie 101 (2012), 71-86.

Guter Service

Vielleicht kennt der eine oder die andere die Internetseiten weihnachtsgottesdienste.de oder ostergottesdienste.de. Ein gemeinsames Angebot von evangelischer und katholischer Kirche, um Zeit und Ort von Gottesdiensten zu recherchieren. Ich habe die Seiten (zu den betreffenden Anlässen) immer gerne genutzt. Ein wirklich guter Service. Bisher fehlte allerdings ein Angebot für die restlichen Gottesdienste.

Das gibt es nun: wegweiser-gottesdienst.de, die „offizielle Gottesdienstsuche der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland“. Bundesweit und für das ganze Jahr kann man nach evangelisch-landeskirchlichen, katholischen und evangelisch-freikirchlichen („andere christliche Konfessionen“) Gottesdiensten suchen. Hervorragend!

Selbst für kirchliche „Insider“ ist die Vielfalt an Gottesdiensten, Gemeinden und kirchlichen Angeboten nicht immer leicht zu durchblicken: Wer bietet was an – und wo ist das bitteschön? Man kann jetzt nur hoffen, dass die einzelnen Kirchengemeinden den Wert dieser Internetseite zu schätzen wissen und ihre Gottesdienste auch wirklich eintragen und die Daten pflegen.

Eine Kleinigkeit könnte man noch optimieren: Warum braucht es in der URL den sperrigen Begriff „Wegweiser“? weihnachtsgottesdienste.de und ostergottesdienst.de kommen ja auch ohne solch einen Zusatz aus. In dieser Logik wäre schlicht und einfach gottesdienste.de eine selbsterklärende und besser zu merkende URL. Sie führt momentan zu einer nicht mehr existierenden Arbeitsstelle der EKD. Vielleicht wäre es ja möglich…

Anfassbare Alltagsspiritualität

Immer zur Adventszeit wird gerne darauf hingewiesen, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist (zum Beispiel hier oder hier), genauer gesagt der Inneren Mission, noch genauer: eine Erfindung von Johann Hinrich Wichern (und ganz genau: wahrscheinlich wurde der Adventskranz in Dänemark erfunden, einer der Wichernschen Brüder hat ihn wohl von dort importiert).

Wichern verfügte über eine gutes Maß an Genialität, was Ritualisierung und Inszenierung angeht. Und dem Adventskranz – ob er ihn nun ge- oder erfunden hat – hat er zu einer unglaublichen Wirkungsgeschichte verholfen. Was ich daran mag: Es ist etwas Handfestes und hat Alltagsrelevanz. Etwas euphemistisch könnte man sagen: Glaube zum Anfassen. Und gerade das ist nicht gering zu schätzen. Denn das, was den Protestantismus in besonderem Maße ausmacht, ist eben kaum anfassbar: Predigt und Kirchenmusik. Beides von (hoffentlich) hohem Niveau, aber eben auch von hoher Flüchtigkeit. Und daher ist ein Adventskranz nicht bloß ein Trockengesteck, sondern ein Stück greifbare Alltagsspiritualität.

Hierüber musste ich nachdenken, als ich dieses Jahr wieder die ganzen Meldungen im Netz las, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist. Und ich frage mich, was es noch in dieser Liga gibt. Mir ist leider kaum etwas eingefallen. Damit war ich allerdings nicht allein, denn eine (sehr) kleine Umfrage in meiner näheren Umgebung hat meine Ausbeute nicht erhöht.

Ich komme auf drei „Dinge“, die einen spirituellen Alltags-Griff haben: der Wichernsche Adventskranz (1839), die Losungsheftchen der Herrnhuter (1731) und die Perlen des Glaubens (1996) von Martin Lönnebo. Immerhin. Aber etwas mehr haptische Qualität täte dem Protestantismus sicherlich ganz gut.

P.S.: Ich lasse mich sehr gern eines Besseren belehren, falls ich da doch Einiges vergesssen haben sollte. Mir geht es um Folgendes: Etwas aus dem Bereich Alltagsspiritualität mit „Ding“-Charakter, entstanden im protestantischen Raum und mit einer gewissen Wirkungsgeschichte.

Online-Diskussion zu „Perspektiven der Diakonie“

Der Diakonie-Bundesverband startet Anfang nächsten Jahres eine Online-Diskussion zur Diakonie im gesellschaftlichen Wandel. Diskussionsgrundlage ist der Text „Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel“ (bereits hier im Blog erwähnt). In vier Runden wird zu den folgenden Themen diskutiert:

  • Theologische Grundlagen und diakonisches Profil (09.01. – 22.01.)
  • Grenzen des Sozialstaats (23.01. – 05.02.)
  • Dienstgemeinschaft und Dritter Weg (06.02. – 19.02)
  • Aktives Alter (20.02. – 04.03.)

Angekündigt wird dies als die „erste bundesweite online-Diskussion in der Diakonie“. Das ist mutig, denn auch wenn in der Diakonie 450.000 Mitarbeitende arbeiten, sind diese ja erst einmal Mitarbeitende der einzelnen Einrichtungen. Man kann also nicht davon ausgehen, dass dieser Aufruf automatisch zur Masse der Mitarbeitenden durchdringt. Aber gerade deshalb ist es gut, solch ein Vorgehen einmal auszuprobieren. Ich hoffe, dass sich viele Leute beteiligen werden und werde die Info zu gegebener Zeit auch noch einmal streuen, so gut ich kann…

Neben dieser Online-Diskussion bietet der Diakonie-Landesverband Rheinland-Westfalen-Lippe noch eine Begleitveranstaltung am 11. Januar 2012 an, ganz old school, also mit physischer Präsenz. Auch hier geht’s um die vier genannten Aspekte.

UPDATE 2011-12-11: Ich sehe gerade den Kommentar von Brigitte Reiser zu der Auswahl der vier Themen. Freut mich!

Erneuerbare Energien

Was kann Menschen trösten? Der Philosoph Wilhelm Schmid führt durch die unterschiedlichen Arten und Weisen des Trostes, in einem Radiobeitrag gestern auf NDR Kultur. Manuskript und Podcast zum Nachlesen und -hören gibt es auf der Seite des Senders (Danke, Susanne!).

Weinen und Lachen, Trostkost (was für ein schönes Wort!) und erotische Lüste, Schreiben oder Musizieren – und noch Vieles mehr bis hin zu den christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung: Schmid beschreibt die verschiedensten Arten des Trostes, nennt Beispiele, und ist gleich darauf schon beim nächsten Punkt. Zum Ende des Beitrags zieht Schmid dann das Fazit:

„Die Vielzahl der Trostmöglichkeiten zeigt: Im Grunde steht jedem Menschen in jeder Situation Trost in reichem Maße zur Verfügung. Die Frage ist nur, ob er das auch so wahrnimmt und die Anregungen Anderer dazu aufnimmt. Wenn nicht, kann Trostlosigkeit und Untröstlichkeit die Folge sein“ (S. 6).

Ein anregender Beitrag. Er ist trostvoll, weil es nicht ums Vertrösten geht. Trost hat bei Schmid nichts Infantiles, kein lappidares Es-wird-schon-wieder. Trost ist die Erfahrung, wieder in die eigene Kraft zu kommen, Trost ist Zufuhr von Energie.

„Was auch immer die Gründe im Einzelfall sein mögen, so sind es im Grunde wohl immer energetische Gründe, die das Bedürfnis nach Trost verursachen: Lebenskraft ist abhanden gekommen. Was geschehen ist, kostet Energie, und Trost bewirkt eine neuerliche Zufuhr von Energie, eine Entdeckung neuer Kraft. Wer Trost findet, gewinnt neues Vertrauen in sich und Andere, in das Leben und die Welt“ (S. 3).

Abhanden gekommene Lebenskraft – genau darum geht’s auch in der Diakonie. Das kommt vor allen Phänomenen der Marginalisierung, vor den ganzen Zuschreibungen aufgrund von Diagnostik oder Zielgruppen („für Arme“, „für Suchtkranke“, „für Behinderte“…).

Wenn man Schmids Trost-Arten zusammenzählt, kommt man auf über zwei Dutzend. Diakonie-Mitarbeitende müssten eigentlich Virtuosen des Trostes sein. Ich glaube, dass viele Mitarbeitende auch genau dies sind. Aber ich stelle mir nach der Lektüre des Manuskripts die Frage, ob man in Fortbildungen und Seminaren nicht stärker die Spur verfolgen sollte, dem nachzugehen, was einen selbst tröstet und energetisiert – und welchen Bezug dies zur eigenen Tätigkeit in der Diakonie hat. Diakonie-Mitarbeitende sollen nicht zu Trost-Professionals werden, aber zu trosterfahrenen Energetisierern. Wilhelm Schmid hat mit dem Text im Grunde schon den Ansatz für ein ganzes Curriculum geliefert…

PS: Anscheinend depubliziert der NDR nach 6 Monaten wieder. Nur so als Hinweis…

Diakonischer Gemeindemehrwert

Der Church Urban Fund, eine von der Anglikanischen Kirche gegründete Organisation zur Armutsbekämpfung in Großbritannien (siehe auch hier), hat ein Tool entwickelt, mit dem man den Wert einer Kirchengemeinde für das Gemeinwesen bemessen kann: das Church Community Value Toolkit. Es geht also um den Mehrwert (den Nutzen, die Ausstrahlung,…) für die „Community“ (das deutsche Wort Gemeinwesen wirkt neben dem englischen Community immer etwas dröge, finde ich).

Das Tool ist wirklich interessant und gut gemacht. Vier Dimensionen werden sehr detailliert abgefragt: Menschen, Aktivitäten, Geld, Gebäude. Das Ganze wird – klar strukturiert – miteinander verrechnet, so dass man darstellen kann, wie sich der Wert der Kirchengemeinde für die Community beläuft. Eine Excel-Tabelle wird auch gleich noch mitgeliefert. (Die Angelsachsen sind halt so pragmatisch… eine deutsche Organisation würde da erstmal lange debattieren, ob der Wert einer Kirchengemeinde überhaupt berechenbar ist. Who cares.)

Neben der Rechnerei gibt es noch einen zweiten Teil des Tools. Dort geht es darum, die Besonderheiten der Kirchengemeinde zu entdecken und zu bewerten. Dabei gilt auch hier: immer bezogen auf die Wirkung der gemeindlichen Arbeit. Den Besonderheiten der Gemeinde kann man auf die Spur kommen, wenn man sich fragt, welche Aufgaben die Kirchengemeinde in welchem Maße leistet. Im Abschnitt Identifying and valuing your distinctivness werden 22 potenzielle Aufgaben von Kirchengemeinden genannt. Diese Aufgaben soll man nun der Reihe nach durchgehen und sich dabei fragen, inwiefern die Kirchengemeinde diesen Aufgaben nachkommt. Dazu gibt es jeweils eine fünfstufige Skala, von „nicht sehr viel“ bis „sehr“. Dies allein ist schon gut. Aber bei jeder Aufagbe soll man zusätzlich noch die Frage beantworten:

  • „Welche lokale Organisation leistet dies Ihrer Meinung nach besser als Ihre Kirchengemeinde?“

Eine sehr pfiffige Frage. Erstens kann solch ein Vergleich die eigenen Einschätzungen realistischer machen, zweitens reflektiert man automatisch mit, wen es noch so alles im Stadtteil gibt.

Hier nun die Aufgaben:

  • Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen aktivieren, sich kennen zu lernen
  • Menschen, die oft ausgeschlossen sind, willkommen heißen
  • Menschen helfen, Sinnvolles in den gesellschaftlichen Veränderungen zu entdecken
  • Menschen helfen zu entdecken, wie die Wohngegend verbessert werden kann
  • Menschen helfen, besser Kontrolle über ihr Leben zu bekommen
  • Trauende Menschen unterstützen
  • Menschen ermutigen oder befähigen, sich im Gemeinwesen ehrenamtlich zu engagieren
  • Menschen helfen, zuversichtlich im Beginn ihrer Ehe zu sein
  • Einen Raum/Platz anzubieten, in dem Menschen ihrer Spiritualität Ausdruck verleihen können
  • Menschen helfen, die Werte zu reflektieren, die ihr Leben stützen
  • Menschen helfen, eine Absicht in ihrem Leben zu entdecken („sense of purpose“??)
  • Menschen in persönlichen Krisen beistehen
  • Menschen helfen, einander zu vergeben
  • Menschen helfen, eine breitere Erfahrung des Lebens zu bekommen
  • Menschen helfen, einander so wahrzunehmen, wie sie sind
  • Unterstützung leisten in emotional aufgeladenen Situationen (wie nationale oder lokale Krisen)
  • Menschen aktivieren, ihr Leadership-Potenzial zu entdecken
  • Menschen helfen, spezifische Fähigkeiten auszubilden (wie z.B. öffentliches Reden)
  • Menschen helfen, Dinge zu bearbeiten, die sie herunterziehen
  • Kindern und Jugendlichen helfen, ihren eigenen Glauben zu erforschen und zu entwickeln
  • Kindern und Jugendlichen helfen, ein Gefühl von Verantwortung und Achtsamkeit gegenüber anderen zu entwickeln
  • Freigiebig, fröhlich und hoffnungsvoll sein, dass es eine Wirkung auf andere hat.

Man kann nun sicherlich noch viele andere Aufgaben formulieren (oder die vorgeschlagen neu arrangieren, zusammenfassen, differenzieren). Die fünfstufige Skala würde ich etwas anders übertragen, denn es sollte meiner Meinung nach auch die Möglichkeit geben, „gar nicht“ anzugeben (die niedrigste Stufe in dem Tool ist „nicht sehr viel“ – vielleicht ist das aber auch britisches Understatement und meint im Deutschen „gar nicht“). Also, ich schlage vor: „gar nicht“ – „kaum“ – „etwas“ – „ziemlich“ – „sehr“.

Sich einmal klar zu machen, was eine Kirchengemeinde an diakonischem Impact leistet, ist wirklich lohnenswert. Wenn darüber hinaus entdeckt wird, ob oder dass die Gemeinde ein faktisches Alleinstellungsmerkmal hat (bzw. wo eine Gemeinde etwas minderbemittelt ist), ist das ausgesprochen wertvoll.

By the way: Auf der Seite des Church Urban Funds gibt es noch eine Menge mehr an Nützlichem zu entdecken. Stöbern lohnt sich!

Endlich mehr Männer

Auf dem Heimweg gestern staunte ich nicht schlecht, als ich an diesem Plakat vorbei radelte. Was daran besonders ist? Nun, es ist ein Werbemotiv für ein diakonisches Unternehmen, auf dem ausschließlich Männer abgebildet sind. Zumindest für Bethel ist das ungewöhnlich, und ich halte es für erwähnenswert.

Die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel starten jährlich eine Großflächenplakat-Kampagne mit ihrem Claim „menschlich. Bethel“, mittlerweile zum dritten Mal. Dem gendergeschulten Auge fällt sogleich auf: Auf den Motiven der ersten beiden Staffeln der Jahre 2009/2010 und 2010/2011 sind fast ausschließlich Frauen abgebildet. Da diese Plakate immer zur Weihnachtszeit geklebt werden, also just dann, wenn die Spendenbereitschaft am höchsten ist, wird die Bildauswahl sehr bewusst getroffen sein. Da müssen Bild und Botschaft passen.

Und wie kann man Menschlichkeit am besten bebildern, visuell gut rüberbringen ohne viele Worte? Doch wohl am besten mit Frauen. Menschlich, nah, zuwendend, sozial, weiblich. Das gehört von Natur aus quasi in eine Reihe.

Genau dieses Image wird in Pflege und Sozialer Arbeit immer wieder kritsiert. Zu recht.

Nun ist anscheinend der Genderbeauftragte aus dem Urlaub zurück und es gibt in der dritten Staffel das erste männerdominierte Motiv. Noch dazu ein richtig gutes. Danke, Jungs.

Diakonische Tische

Auf dem DWI-Kongress Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung (Frühjahr 2008) habe ich in einem Workshop folgende These von Paul-Hermann Zellfelder gehört:

„Wir benötigen mehr ‚Tischdiakonie‘ als wesentliche Ergänzung zur ‚Tresendiakonie'“ (Paul-Hermann Zellfelder, siehe auch DWI-INFO Sonderausgabe 11, Heidelberg 2009, S. 143)

Der Satz leuchtete mir sofort ein – und ist hängengeblieben. Mit „Tresendiakonie“ sind die Tafeln gemeint. Über Tafeln ist schon viel diskutiert worden, das will ich hier nicht wiederholen. Nur auf diesen einen Punkt möchte ich hinweisen, der mir erst durch Zellfelders Begriff „Tresendiakonie“ aufgegangen ist: Die Tafeln haben gar keine Tafel – sondern einen Tresen. Bei einem Tresen gibt es ein „davor“ und ein „dahinter“. Bei einer (richtigen) Tafel gibt es nur ein „drumherum“. Dies sind nicht einfach Sprachspiele, sondern diese Bilder beschreibt sehr eingängig das zugrundeliegende Hilfeverständnis. Ich will jetzt kein Tafel-Bashing betreiben, denn bei den Tafeln gibt es wirklich gute Aspekte: die Wahrnehmung unwürdiger Zustände (wie das Ausmaß der Armut), und das Potenzial, aus diesem Unterstützungsformat heraus Innovatives zu entwicklen (Tafeln können sozusagen „soziale Energie“ bündeln).

Paul-Hermann Zellfelder bringt nun die „Tischdiakonie“ als Gegenbegriff  – oder vielleicht besser: als ursprünglichen Begriff – ins Spiel und erinnert damit an die jesuanische Tradition. Richtig finde ich dabei den Hinweis, dass die „Tische“ die „Tresen“ ergänzen sollen, es geht also nicht darum, ein vermeintlich schlechtes Modell durch ein vermeintlich besseres zu ersetzen.

Wie gesagt, den Hinweis auf Tisch- und Tresen-Diakonie hatte ich bereits vor wenigen Jahren gehört, aber ich habe bisher noch nicht mitbekommen, dass tatsächlich von „diakonischen Tischen“ gesprochen wird. Auf jeden Fall ist mir im Fortbildungsprogramm 2012 der Diakonie Bayern ein Fachtag zu „diakonischen Tischen“ aufgefallen. Dort habe ich dann auch noch eine Notiz auf einen bereits durchgeführten Fachtag zu diesem Thema entdeckt, in der drei gute Reflexionsfragen genannt werden:

  • Was hat sich mit dem Projekt in der Kirchengemeinde/beim Träger verändert?
  • Was bekommen die Gäste von uns – was bekommen wir von den Gästen?
  • Was antworten wir, wenn wir gefragt werden, warum wir das tun?

Klagen!

In der Diakonie wird viel und gern geklagt. Ge- und beklagt, nicht verklagt (und bitte nicht verwechseln mit Jammern!). Klagen hat für die Diakonie aber auch aus theologischer Sicht eine ganz besondere Bedeutung: Es dient dem Öffentlichmachen und Verbalisieren von Not. Klagen ist daher ein wichtiges, gar existenzielles Mittel im Umgang mit der Not. Wirft man einen Blick in die Bibel, stellt man fest, dass ein Drittel der Psalmen Klagepsalmen sind.

Schon vor einiger Zeit bin ich die Idee des Klage-Chors gestoßen. Eine wundervolles Projekt: Menschen klagen gerne, Menschen singen gerne – warum nicht beides zur selben Zeit? Begonnen hat die Idee des Complaints Choir in Finnland, mittlerweile gibt/gab es gut zwei Dutzend Klagechöre weltweit. Hier ein Video des Birminghamer Klagechors und hier ein kurzer Werbetrailer für das Projekt in Chicago.

Das wäre doch mal ein schöne Idee für die Diakonie…! Die Complaints-Choir-Bewegung betont zwar, dass sie sich nicht als politische Protestform versteht:

„Complaints Choirs are not intended as protest choirs or an agit-prop revival. The political complaint is only representing a small margin of the wonderful world of complaints. Why should such important issues as broken underpants, boring dreams or spying neighbors be excluded? On the other hand the private, the personal, can be very political at the same time.“

Okay, das läuft jetzt etwas meinem Wunsch nach einer stärkeren Politisierung diakonischer Arbeit zuwider, aber man merkt an diesen Zeilen, mit welch feiner Ironie die Klage-Idee aufgegriffen und umgesetzt wird.

Und um wieder zum Ernst des Klagens zurückzukommen, hier noch zwei weiterführende Literaturhinweise bezüglich der theologischen Dimension des Klagens:

Klage im Alten Testament: Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, Studienbuch Diakonik, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 58-87.

Dorothee Sölle beschreibt drei Phasen des Leidens, die Mittelstellung nimmt dabei das Klagen ein. Eine gute Übersicht findet sich hier: Dorothee Sölle: Leiden, Stuttgart/Zürich 2003.

Vier Formen kirchengemeindlicher Diakonie

Gut strukturierte Typologien gefallen mir ja immer. In der katholischen „Diakonia“ stieß ich auf Daniel Wiederkehrs Ansatz, der vier Formen „gelebter Diakonie“ in Kirchengemeinden vorstellt. Grundlage für seine Typenbildung ist eine empirische Studie in der Schweiz. Wiederkehr nennt folgende vier Typen:

  • Heimat
  • Herberge
  • Sozialcenter
  • Politforum

Diese vier Typen werden in einer 2×2-Matrix angeordnet mit den Koordinaten Hilfeverständnis (individulle Hilfe — strukturelle Hilfe) und Zielhorizont (Solidarität innerhalb der Gemeinde — Dienst an der Gesellschaft).

Ein schönes Modell zur Reflexion diakonischer Aktivitäten in der Kirchengemeinde. Nachzulesen in: Daniel Wiederkehr: Und sie lebt doch, die Diakonie! Pfarrei als Raum diakonischen Wirkens, Diakonia 39 (2008), 292-298.

Den Vorhof bespielen

Das ist doch mal eine schöne Idee: Eine Kirchengemeinde legt einen Boule-Platz an: als kommunikativen, konsumfreien und – auch wenn es vielleicht zunächst merkwürdig klingt – durch und durch diakonischen Ort.

„Boule ist zutiefst demokratisch. Das Spiel akzeptiert jeden Spieler wie er ist und nimmt jeden, ob Anfänger oder Profi, gleichermaßen gefangen. […] Das Boulespiel setzt keine Vorkenntnisse oder andere Anforderungen voraus. Es macht auch nicht Halt vor bestimmten sozialen Schichten. […] Boule ist ein Spiel derer, die innehalten, die durchatmen und sich Zeit nehmen. Boule hat nichts mit Leistungsdruck zu tun, hier muss man keine Muskeln stählen, keinen Kreislauf trainieren, keine Diäten durchziehen, um Anerkennung zu finden. Und so wurde das Boulespiel, wie wir es heute kennen, auch von einem rheumakranken, gehbehinderten Südfranzosen erfunden (Christian Kempe: Der große Wurf, in: Meurer/Otten/Becker: Ort Macht Heil, S. 265-267, 265-266).

Ich vertrete nun keineswegs die Meinung, dass die Aufgabe von Kirche darin besteht, freizeitsportliche Angebote zu unterhalten (mir würde nicht im Traum einfallen, dass eine Kirchengemeinde eine Bowlingbahn betreiben sollte!). Es geht um etwas anderes.

Ein Boule-Platz „bespielt“ quasi den „Vorhof“ einer Kirche, wenn er entsprechend angelegt ist. Und er ist eine schöne Ergänzung zu einem gemeinwesendiakonischen Stadtteiltreff. Hier und da könnte er sogar eine Alternative darstellen, denn in einem Stadtteiltreff, Kirchenladen oder Kirchencafé kann man sich nur zu den vorgesehenen Öffnungszeite treffen.

Entdeckt habe ich diese Idee in dem Buch Ort Macht Heil (das übrigens eine Fülle ähnlicher Anregungen bietet. Kaufen!). Darin beschreibt Christian Kempe die Idee hinter der Boule-Anlage in Köln Höhenberg-Vingst (HöVi). Dort ist der Boule-Platz aus einer gemeinsamen Aktion mehrere Stadtteilgruppen entstanden. Ich finde, dass diese Idee aber grundsätzlich ins Wir-gestalten-und-eröffnen-Räume-Repertoire von Kirchengemeinde und  Gemeinwesendiakonie gehören sollte.

Ach ja: Und Boule ist der einzige Sport, den man auch mit einem Glas Rotwein in der Hand bestreiten kann!

Gottesdienstpreis 2011 (… und 2012 und 2013)

Die Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes verleiht seit 2009 den Gottesdienstpreis. Anliegen der Stiftung ist es, die Gottesdienst-Qualität zu steigern und zeitgemäße Gottesdienstformen zu fördern. Dieses Jahr wurde eine Tauferinnerungsfeier mit behinderten Menschen in der Bruderhaus-Diakonie (Reutlingen) ausgezeichnet, gehalten wurde der Gottesdienst von Pfarrerein Cornelia Eberle. Der Ablauf des Gottesdienstes ist als PDF auf der Internetseite der Gottesdienst-Stiftung abrufbar.

Der Gottesdienstpreis steht jedes Jahr unter einem bestimmten Thema. Auch die Schwerpunkte der nächsten Jahre sind für diakonische Einrichtungen sehr interessant. Die Ausschreibungen für die Jahre 2012 und 2013 sind bereits auf der Internetseite der Stiftung zu finden.

Gottesdienst mit Demenzkranken (2012). Die Kriterien sind

  • Theologische und ästhetische Qualität;
  • Verwendung von Leichter Sprache und unterstützender Kommunikation;
  • Elementarisierung;
  • Umgang mit Gesten, Symbolen und Zeichen;
  • Berücksichtigung der Sinnesorgane;
  • Impulse zur Aktivierung von Erinnerungen;
  • Beteiligung der Gemeinde

Ein Gottesdienstkonzept für die Region (2013). Gesucht wird ein Gottesdienstkonzept, das

  • mehrere Gemeinden oder Einrichtungen gemeinsam entwickelt haben;
  • auf einer sorgfältigen Analyse der Situation vor Ort beruht;
  • ein theologisch durchdachtes Ensemble von Gottesdiensten in der Region und im Kirchenjahr darstellt;
  • unterschiedliche Milieus und zeitliche Bedürfnisse berücksichtigt;
  • zu den vorhandenen Räumen passt;
  • mit den Grenzen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden phantasievoll und realitätsgerecht umgeht.

Was ist Diakonie? (#5)

Weiter geht’s mit der Frage, was „Diakonie“ inhaltlich bedeutet…: In einem Text von Ulf Liedke habe ich folgenden Satz gefunden, der mir sehr gefällt: „Diakonie ist die Leidenschaft für die Möglichkeiten, die Menschen in sich tragen.“ Hier das Zitat im Zusammenhang:

„Von Kierkegaard stammt der Satz ‚Hoffnung ist die Leidenschaft für das Mögliche‘. Frei übersetzt: Diakonie ist die Leidenschaft für die Möglichkeiten, die Menschen in sich tragen: für die ungenutzten Ressourcen und verbliebenen Stärken, für die entwickelbaren Kräfte und die förderbare Selbstbestimmung. Statt ‚Stark für die Schwachen‘ sollte es deshalb lauten: ‚Stärken haben alle’“ (Ulf Liedke: Diakonisches Profil in der Leistungsgesellschaft – Welche Ethik brauchen wir?, Studientexte aus der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden, 02/2002, S. 5).

Oder anders gesagt: Entdecke die Möglichkeiten (die du in dir hast). Und Aufgabe der Diakonie ist es dann, bei diesem Entdecken zu unterstützen, leidenschaftlich.

Hier steckt theologisch einiges drin. Aufgabe des Menschen ist es, seine Begabungen fruchtbar werden zu lassen und einzustezen, zum eigenen Wohl und zum Wohle aller. Damit dies überhaupt möglich ist, muss ich mir meiner Begabung aber erst einmal bewusst sein. Mit anderen Worten: Ich muss auf die Suche gehen nach dem, wozu ich berufen bin. Die Aufgabe des Menschen ist es, seine eigene Berufung zu erkennen und die eigenen Begabungen zu entwickeln und einzubringen (siehe hier zum Beispiel die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“, Gütersloh 2006, S. 11). Dabei zu unterstützen, ist die Aufgabe der Diakonie.

So einfach und schlicht das auch klingen mag, solche „Definitionen“ von Diakonie finde ich gehaltvoll. Denn sie setzen bei der „eigentlichen“ Aufgabe von Diakonie an: Berufung erkennen, eigene Möglichkeiten entdecken, Begabungen nicht verkümmern lassen und weiterentwickeln, sich selbst in dieser Welt einbringen (wenn man denn der Auffasung ist, dass dies die Aufgabe von Diakonie ist). All das, was Diakonie macht, von konkreten Dienstleistungen bis zur gesellschaftspolitischen Einflussnahme (siehe auch hier), macht sie aus Leidenschaft für die Möglichkeiten, die in den Menschen drinstecken.

Und weil es eben schon einmal so nach IKEA klang (Entdecke die Möglichkeiten…), mache ich noch eine schwedische Anleihe und formuliere die Frage: Hilfst du noch, oder entdeckst du schon?

Kein Modell mehr

Der Vorstand der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel hat die Vision Bethels überarbeitet. Es ist eine kleine sprachliche Änderung, aber eine bedeutsame. In den bisherigen Versionen der Bethel-Vision gab es einen kleinen Abschnitt mit der Überschrift „Orte zum Leben gestalten“. Darin wurde beschrieben, dass Bethel als Modell verstanden wird. Mit dem Modell ist die geschützte Ortschaft gemeint. Dieser Satz ist nun gestrichen. Bethel ist kein Modell mehr.

In einem Artikel der Betheler Monatszeitschrift DER RING erklärt Vorstandsmitglied Günther Wienberg:

„In Zeiten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung könnten besondere Ortschaften als solche aber kein Modell mehr sein“ (DER RING, April 2011, S. 13).

Bethels Vision lautet: Gemeinschaft verwirklichen. Konkretisiert wird dies mit drei Aussagen, die ersten beiden lauten:

  • Qualifiziert helfen
  • Orientierung geben

Der dritte Punkt wurde in der aktuellen Version der Bethel-Vision umformuliert. Er lautet nun:

  • Orte zum Leben gestalten Lebensräume gestalten

Es gibt etliche diakonische Einrichtungen, die diesen Schritt längst vollzogen haben. Ich bin nun kein Freund von Parallelwelten und romantisch verklärter Dorfgemeinschaft, aber ich muss zugeben, das berührt mich schon ein bisschen.

Die Entwicklung – und die Streichung des Aussage „Bethel als Modell“ in der Vision – ist konsequent. Es gibt daran Gutes und auch nicht so Gutes. Jeder mag das selbst beurteilen. Dies ist aber – für jede diakonische Einrichtung, die diesen Weg geht – ein historischer Akt. Und das sollte man zur Kenntnis nehmen.

Diakonie als Ortschaft zu organisieren ist eine der ganz großen, bedeutenden Ideen in der Diakoniegeschichte. Dies ist Teil des Gründungsmythos der Inneren Mission. Und Bethel hat sich wie viele andere diakonische Einrichtungen, die bis in die Gründerzeit der Inneren Mission zurückreichen, immer als Modell verstanden. Dies war quasi Bestandteil der Bethel-DNA. Das wurde dann auch gerne mal theologisch überhöht, das „Reich Gottes“ lag da natürlich nahe. Manchmal fehlte dann auch ein bisschen die Demut, dass die Diakonie (bzw. die Innere Mission) nicht nur ein Zeichen für das Anbrechen des Reiches Gottes war, sondern eigentlich schon die Manifestation des Reiches Gottes auf Erden. So war halt die Frömmigkeit in der Inneren Mission.

Von dem frömmelnden Über- oder Unterbau hat man sich dann in den 70er Jahren befreit, die „fachliche Wende“ brach an. Und immer noch – oder gerade deshalb: Bethel war nicht nur irgendein Modell, Bethel war das Modell. Nach den Berichten älterer Kollegen zu urteilen (ich wurde zu der Zeit ja erst geboren) war das wirklich ein Aufbruch. Und im Grunde dachte jeder, der dabei war: Schaut her, das Reich Gottes ist mitten unter uns. Hier. Das Modell.

Dann kamen die End-80er und Mitt-90er Jahre. „Häuser“, diese in steingehauenen Identifikationspunkte, waren dann auf einmal keine „Häuser“ mehr, sondern „Einrichtungsverbünde“ oder dergleichen. Der Schritt war dann nicht weit, um zu Beginn der Nuller-Jahre die Ortschaften aufzulösen oder zumindest ausfransen zu lassen. Es wurde ambulantisiert und dezentralisiert in großem Stil. Einige Zeit später diskutierte man dann auch ein neues Fachkonzept: Inklusion.

Es gibt fortlaufend „Paradigemnwechsel“ in der sozialen Arbeit, nicht immer sind es wirklich welche. Dies ist einer. Denn der Selbstanspruch hat sich geändert: Bethel (ich könnte auch etwas anmaßend formulieren: die Diakonie) will nicht mehr Orte gestalten, sondern Lebensräume. Das ist in großen Teilen gut, wirklich gut. Aber auch geschützte Orte haben ihren Wert. Und so ist es ein einschneidender Schritt. Es mag sein, dass man in zehn, zwanzig Jahren wieder einen neuen Weg geht: zurück zu den Ortschaften. Es kann ebenso sein, dass man dann sagt: Gut, dass wir damals diesen Schritt gegangen sind, diesen Schnitt gemacht haben.

Mal schauen, was die Zehner-Jahre so bringen werden.

P.S.: Die Betheler Monatsschrift DER RING ist wirklich lesenswert, leider gibt es keine PDF-Ausgaben auf der Bethel-Homepage. Auch sind die ersten beiden Versionen der Bethel-Vision nicht mehr auf der Homepage zu finden (was schade ist), soeben wurde die dritte Version online gestellt.

Was ist Diakonie? (#4)

Welche Aufgaben oder Funktionen hat Diakonie? Im Konkreten ist das oft sehr einfach zu benennen (oder anders gesagt: Im Konkreten stellt sich diese Frage meist gar nicht). Will man dies aber etwas allgemeiner beschreiben, wird es schon schwieriger. Zumindest wenn man es nicht bei solch platten Aussagen wie „Diakonie ist christliche Zuwendung“ oder „Diakonie ist Helfen“ belassen will (die übrigens auch gar nicht so recht stimmen).

Oft hört man, Diakonie will konkrete Not lindern und die Ursachen der Not bekämpfen. Solch eine grundsätzlichere Bestimmung diakonischer Aufgaben geht in die richtige Richtung, trotzdem suche ich immer noch nach einer etwas umfassenderen Systematik. Erstaunlicher Weise gibt es recht wenig Ansätze, die in diesem Sinne etwas anzubieten haben.

Die Bratislava Declaration on Diaconia and Social Exclusion beschreibt fünf diakonische Aufgaben:

„Diaconia works to:

– serve people in their daily life as they face life crises and material or spiritual needs and to provide quality social and other services. Diaconia bases its work on the participation and empowerment of those it serves
– create a culture based on sharing, respect for diversity and participation
– build human community whilst respecting the human dignity of every person as made in the image of God
– take action in favour of justice and an end to oppression, with and on behalf of people in situations of economic, social injustice or otherwise in distress
– shape political and economic priorities and to create, with others, an active democracy which respects all dimensions of human rights“ (S. 2-3).

Diakonie hat demnach fünf Aufgaben: Diakonie bietet soziale Unterstützungsangebote, Diakonie gestaltet eine von Teilen, Vielfalt und Beteiligung geprägte Kultur, Diakonie schafft Gemeinscht, Diakonie greift ein/klagt an bei Ungerechtigkeit und Diakonie will Einfluss nehmen auf politische und wirtschaftliche Prozesse.

Um noch etwas grundsätzlicher zu werden: Aus diesen Aufgaben könnte man auch grundlegende Funktionen der Diakonie ableiten. Die Funktion der Diakonie wäre dann fünf-dimensional:

  • Dienstleistungsdimension
  • kulturelle Dimension
  • gemeinschaftliche/gemeinschaftsbildende Dimension
  • aktivierende/interessenvertretende Dimension (evtl. auch im Sinne von advocacy?)
  • (gesellschafts-) politische Dimension (evtl. auch im Sinne von lobbying?)

An den Begriffen kann man vielleicht noch etwas feilen, aber in meinen Augen ist dies eine wirklich differenzierte und auch recht umfassende Beschreibung, welche Funktion Diakonie hat. Eine einzelne diakonische Einrichtung muss nicht im gleichem Maße diese fünf Dimensionen abdecken, aber sie sollte sich zumindest daran orientieren.

Die Bratislava-Erklärung gibt es auch auf tschechisch, ungarisch, rumänisch und polnisch. In der Diaconia ist sie ebenfalls auf englisch abgedruckt. Und sie ist nicht zu verwechseln mit der Bratislava-Erklärung der Konferenz Europäischer Kirchen!