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Was ist Diakonie? (#10)

Im diakonischen Bereich wird oft erwähnt, dass die Diakonie zwei wichtige Funktionen erbringe, nämlich Dienstleistung und Anwaltschaft – also das Anbieten sozialer Dienstleistungen und das anwaltschaftliche Eintreten für die Rechte Marginalisierter. Doch beschreibt diese Doppelfunktion wirklich hinreichend das Spektrum diakonischen Handelns? Fehlt da nicht was?

Das Funktionen-Doppel von Dientsleistung und Anwaltschaft trifft es in meinen Augen nicht so richtig. Dabei geht es mir gar nicht darum, dass beide Funktionen gerne und oft kritisiert werden – das Erbringen diakonischer Dienstleistungen führt unweigerlich zu der Kritik, dass die Diakonie eh nur das tue, was sie bezahlt bekomme und der Anwaltschaftlichkeit wird vorgeworfen, dass sie vor allem Eigeninteressen des Trägers diene; zudem müsse man fragen, woher eigentlich das Mandat zum anwaltlichen Tätigsein komme, es handele sich viel eher um ein „angemaßtes Mandat“.

Ich finde an dieser Doppelfunktion vor allem schwierig, dass sie de facto zu einem Dualismus wird: einerseits gibt es da die durchökonomisierte Dienstleistungserbringung, andererseits das gesellschaftspolitische „anwaltschaftliche“ Engagement der Diakonie, das gern als die „eigentliche“ diakonische Aufgabe angesehen wird. Die Anwaltsfunktion wird so zu einer Chiffre für all das Gute, Wahre und Schöne der Diakonie – bleibt damit allerdings auch diffus. Die (gesellschafts-)politische Funktion der Diakonie ist aber breiter und facettenreicher, als es der Begriff „Anwaltschaftlichkeit“ hergibt.

Anwaltschaftlichkeit muss daher meines Erachtens präzisiert werden. Zum einen spreche ich lieber von Interessenvertretung, das kommt mit etwas weniger Pathos daher. Und zum anderen braucht es über das Eintreten für die Interessen bestimmter Gruppen hinaus auch noch eine gesamtgesellschaftliche Funktion: das Bemühen um eine solidarische und gerechte Gesellschaft im Ganzen. Daher gefällt mir auch die Trias gut, die die Caritas immer wieder nutzt, um ihr Selbstverständnis zu beschreiben: Dienstleister, Anwalt und Solidaritätsstifter.

Die Solidaritätsstiftung explizit als dritte Funktion zu bennen, finde ich sehr einleuchtend. Zum einen schon allein deshalb, weil Dreiermodelle grundsätzlich mehr Eleganz haben als Zweiermodelle (bzw. de facto-Dualismen). Zum anderen aber auch, weil es eben einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Anwaltschaftlichkeit/Interessenvertretung und Solidaritätsstiftung gibt. Er liegt in dem, worauf sich diese beiden Funktionen beziehen: Bei Anwaltschaft/Interessenvertretung geht es immer um die Durchsetzung von Partikularinteressen, bei der Solidaritätsstiftung um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es sind zwei verschiedene Bezugspunkte.

Doch in meinen Augen fehlt da immer noch etwas. Es gibt es noch eine weitere, vierte Funktion, die bisher in der Reflexion über die Diakonie bisher kaum auftaucht: die Funktion des Gemeinschaftsbilders.

Der Begriff der Gemeinschaft ist manchmal etwas romantisch aufgeladen und gerade in kirchlichen und diakonischen Szenen hat er hin und wieder etwas merkwürdige Konnotationen – mir ist daher eigentlich der englische Begriff der Community etwas lieber, denn es geht um die ganze Breite dessen, was „Community“ sein kann: Gemeinschaften, Gemeinden, Gemeinwesen, aber auch Szenen oder Netze.

Die Funktion des Gemeinschaftsbilders / des Community-Buildings ist noch nicht durch die anderen drei Funktionen abgedeckt. Und in meinen Augen ist sie auch gerade für die Diakonie wesentlich. Die Diakonie hat eben auch die Funktion, zu verbinden und zu vernetzen, Sozialkapital aufzubauen und Zugehörigkeiten zu ermöglichen. Es geht um angemessene und gelingende Formen von Vergemeinschaftung, es geht darum, „Communities“ (mit) zu ermöglichen, (mit) zu pflegen, und (mit) zu entwickeln. Die Zugehörigkeiten zu „Communities“ und das Eingebundensein in ihnen ist eben nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern hat einen Wert in sich – sowohl für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft im Ganzen.

Interessant finde ich, dass ich auf die Funktion des Communty-Buildungs ja bereits in der Bratislava-Erklärung gestoßen bin (…wenn ich es recht sehe, ist diese auf osteuropäischen Erfahrungen aufbauende Erklärung bei uns völlig unbekannt – was schade ist!). Und in einem Blogbeitrag von Brigitte Reiser habe ich den Hinweis auf eine etwas anders formulierte Funktionen-Trias von Nonprofitorganisationen gefunden, die ebenfalls die Community-Dimension als grundlegend ansieht. Auch in Reisers erweitertem Modell (sie führt Beteiligung/Partizipation als vierte Dimension ein), bleibt die Community-Funktion selbstverständlich bestehen.

Gerade für die Diakonie ist die Gemeinschaftsfunktion im Grunde nicht neu (man denke nur an die Anstalten, Häuser und Wohngruppen, an Kommunitäten, Basisgemeinschaften und diakonische Gemeinschaften, aber auch an das (zaghafte) Experimentieren mit Genossenschaften. Als das war schon immer nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Grundanliegen der Diakonie, deshalb erstaunt es mich ein wenig, dass ein Community-Buildung bisher nicht als eigenständige Grundfunktion von Diakonie diskutiert wird.

Man könnte auch einmal darüber nachdenken, ob nicht gerade die konfessionellen Wohlfartsverbände ein besonderes Interesse an der Community-Funktion haben müssten. Zum einen ist das Christentum keine individuelle Erlösungsreligion, sondern eine auf Gemeinschaft angelegte Religion, und zum anderen ist die ganze Kirchen- und Diakoniegeschichte ja voll von Erfahrungen und Experimenten mit Sozialformen – erfolgreichen und gescheiterten.

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Diakonie ist nicht nur Dienstleister, Anwalt und (nicht zu vergessen!) Solidaritätsstifter, sondern auch Gemeinschaftsbilder.

„Neue Gemeindeformen“ und ihre Bedeutung für die Diakonie

Die aktuelle Ausgabe 1/2013 der Zeitschrift “Praktische Theologie” hat den Schwerpunkt “Neue Formen von Gemeinde”. Ich zähle nun nicht zu den Insidern der Gemeinde-Entwicklung, aber mir scheint es doch gegenwärtig ein gewisses Interesse daran zu geben, wie und was Gemeinde sein kann. Also ein sehr aktuelles Thema. Und – ist das nun erstaunlich oder ist es das nicht? – ein äußerst ergiebiges Thema für diakonische Entdeckungen.

Lange Zeit schien das Thema “Gemeinde” vom Tisch zu sein. Kirche organisiert sich halt in Gemeinden, aber wer innovativ sein will, der sollte sich dann doch lieber von der Gemeinde fernhalten. Innovation ist woanders. Das fordert natürlich auch eine Gegenbewegung heraus, bei der alles daran gesetzt wird, dass Gemeinde so innovativ wie möglich daherkommt. Bevorzugte Vokal ist dabei “frisch” (und weil das so altbacken klingt, nennt man es lieber “fresh”).

Das Positive an dem Schwerpunktheft der Praktischen Theologie ist in meinen Augen, dass man sich nicht von den euphemistischen, aber letztlich doch inhaltlich unbestimmten Schlagworten “alternativer” oder “fresh”er Ansätze leiten lässt. Sondern es geht um die nüchtern klingende, aber äußerst spannende Grundfrage: Wie funktioniert eigentliche (christliche) Vergemeinschaftung? Dazu werden sieben Gemeinden vorgestellt. Diese sind:

Die Schilderungen der Gemeinde(forme)n sind anregend zu lesen und es lohnt sich, über die anschließenden systematisierenden Überlegungen von Ralph Kunz und Uta Pohl-Patalong nachzusinnen. Zwei Gedanken gingen mir dabei immer wieder durch den Kopf:

Die Frage nach der diakonischen Dimension der (neuen) Gemeindeformen

Kunz und Pohl-Patalong betonen, dass die vorgestellten Gemeinden deutliche diakonische Bezüge haben – seien sie explizit oder implizit:

“Auffallend häufig finden sich bei den vorgestellten Gemeindemodellen ein gesellschaftliches Engagement in Solidarität mit benachteiligten Menschen. Die St. Lukas-Kirche in Gelsenkirchen und die Mitenand-Arbeit in Basel leben von diesem Motiv, aber es findet sich bei allen anderen in unterschiedlicher Weise, sei es als sozialdiakonisches Arbeitsfeld ‘Haltestelle LUX’, das sozial benachteiligte Jugendliche fördert, sei es als Auseinandersetung mit gesellschaftlichen Fragen wie in der Stadtkirche Dortmund oder als Forum für die aktuellen Fragen im Stadtteil wie im Ökumenischen Forum HafenCity, sei es als konkrete diakonische Arbeit im Quartier in der Gellertkirche Basel” (Kunz/Pohl-Patalong, S. 34).

Für Kunz und Pohl-Patalong weisen diese neuen Gemeindeformen “neue Mischungen von Sozialität, Spiritualität und Solidarität” auf (S. 35). Das Mischungsverhältnis der sozialen, spirituellen und solidarischen Dimension macht dann den Charakter der Gemeinde aus. Und ich mag mich täuschen, aber mir scheint, dass sich bei den Diskursen rund um das Diakonische der Kirche im Laufe der Jahre der Klang geändert hat. Ein gewisses Pathos, das oft mit diakonischer Arbeit einherging (etwa: Diakonie als Gerechtigkeitsarbeit, die nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch noch gegen die Kirche kämpfen muss), verebbt zunehmend. Ein neues Interesse an Spiritualität, Kontemplation oder Liturgie scheint gerade nicht – wie in der diakonischen Szene oft befürchtet – die Diakonie zu verdrängen. Sie wird im Gegenteil neu entdeckt; etwas unaufgeregter, aber mit durchaus radikalem Potenzial.

Vielleicht ist das aber auch eine etwas überschießende Interpretation von mir, mag sein…

Und andersrum: Die Frage nach der Gemeinschaftsdimension in der Diakonie

Es ging mir aber noch etwas Zweites durch den Kopf. Die Frage nach angemessenen Sozialformen und die Erkenntnisse der beschriebenen Vergemeinschaftungsprozesse sind auch für die Diakonie in ihrer institutionalisierten Variante spannend.

Meine These – die ich in Vorträgen schon gelegentlich betont, aber hier im Blog noch nicht dargestellt habe (wird nachgeholt!) – ist, dass Diakonie vier Grundfunktionen hat. Und damit eine mehr als das gängige Dreier-Modell mit Dienstleistung, Interessensvertretung (oft als „Anwaltschaftlichkeit“ bezeichnet) und Solidaritätsstiftung. Die vierte Funktion ist die der Gemeinschaftsbildung. Für mich ist auch die Pflege von Sozialkapital, die Beheimatung in kleineren und größeren Kollektiven, das Bemühen ums Dazuzugehören oder das Aufbauen von Netzwerken eine Grundfunktion der Diakonie.

Dazu gehört auch das Suchen und Ausprobieren von immer wieder neuen, angemessenen Sozialformen und das Wahrnehmen und Reflektieren von Vergemeinschaftungsprozessen. Auch deshalb sind die 7 + 1 Artikel dieser PrTh-Ausgabeauch für die Diakonie interessant.

Um die Dortmunder Stadtkirche St. Petri bildet sich eine eigene Szene, in der es immer wieder zur der überraschend-irritierenden Erkenntnis kommt, dass man in St. Petri gar nicht eintreten kann – denn rechtlich ist sie eben gar keine eigenständige Gemeinde. Weil man aber gerne irgendwo eintreten möchte, gründet man halt einen Förderverein. Auch um die Hamburger Kirche der Stille gruppiert sich eine Szene. Gemeinschaft wird gesucht, aber der Begriff „Gemeinde“ wird vermieden – zu viele negative Konnotationen schwingen mit. Die Alternative lautet dann „spirituelles Zuhause“. Bei der Jugendkirche LUX geht es um Beziehungen in Teams und Kleingruppen, die zusammen ein Netzwerk bilden. Dies führt zur Nutzung des „Community“-Begriffs, der sowohl das soziale Phänomen als auch dessen theologische Deutung aufnimmt. Die gemeinwesendiakonisch ausgerichtete Lukas-Gemeinde in Gelsenkirchen orientiert sich an „gelebter Nachbarschaft“; das Verhältnis der Sozialformen „Gemeinde“ und „Gemeinwesen“ wird mit „Nachbarschaft“ auf den Punkt gebracht. Auch das Ökumenische Forum HafenCity knüpft an die Idee eines Nachbarschafts- bzw. Begegnungsortes an, gemeinschaftliche Dynamik entfaltet sich zudem durch eine Kommunität und eine Hausgemeinschaft. Die missionarisch ausgerichtet und von Willow Creek geprägte Gellertkirche in Basel besteht aus einem Geflecht von über hundert (!) verschiedenen Kleingruppen; die zwei zentralen Gottesdiensten haben für landeskirchliche Verhältnisse Großveranstaltungscharakter. Und wiederum ganz andere Sozialformen bilden sich in der vor allem von Migrant/innen getragenen Mitenand-Bewegung in Basel. Eine Arbeit, die entdeckt hat, dass inklusive Ideen unter erschwerten Bedingungen möglich werden können, wo integrative Ansätze eben nicht möglich sind. Besondere Formate sind ein babel-artiger Gottesdienst ohne gemeinsame Sprache, ein sonntäglicher Begegnungsraum und eine eigene Art von Gemeindefreizeit.

Diakonie war immer wieder dann innovativ, wenn sie das Potenzial bestimmter Community-Arten entdeckt hat und zum wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit gemacht hat: Kommunität, Verein, Anstalt, Haus(-Familie), Wohngruppe, vereinzelt auch die Genossenschaft oder die Hausgemeinschaft, neuerdings die Nachbarschaft. Unter diesem Gesichtsprunkt birgt eine Debatte um neue Gemeindeformen durchaus auch noch Einiges an Potenzial für die Diakonie.

Gemeinwensenorientierte Ansätze werden hierbei eine wichtige Rolle spielen, das liegt ja bereits auf der Hand. Das Geflecht aus Zellen, Clustern und Netzen (wie in missionarischen oder in jugendkulturellen Gemeinden) könnte gerade für das Gelingen von Teilhabeprozesse eine entscheidende Bedeutung haben (wird meines Wissens aber unter „diakonischer“ Perspektive noch nicht bedacht). Das Phänomen, dass sich sogar in eher losen Szenen Wünsche nach formaler Zugehörigkeit entwickeln, ist vor allem für diakonische Gemeinschaften interessant. Die meines Erachtens wichtigste Brutstätte diakonisch relevanter Sozialformen sind die Migrantengemeinden. Nicht aus einer falsch verstandenen naiven Romantik heraus, sondern weil sie Integrations- und Inklusionsbemühungen noch einmal gegen den Strich bürsten.

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Neue Gemeindeformen haben deutlich diakonische Dimensionen. Und die Diakonie braucht als Gemeinschafts-Bilder den Diskurs um neue Sozialformen.

Diakonisches Profil: Neues Dossier und einige Notizen

So, das dritte Dossier auf diakonisch.de ist online. Es dreht sich rund um das Thema „diakonisches Profil“. Dazu ist natürlich schon sehr viel publiziert worden, deshalb steht bei diesem Dossier eine qualitative Reduktion im Vordergrund. Es ist eine kleine, aber umso feinere Auswahl geworden. Damit man nicht alles lesen muss, sondern nur das Gute.

Zur Einstimmung hier noch vier Punkte, die mir bei der Beschäftigung mit dem Thema über die Jahre hinweg wichtig geworden sind. Wenn man diesen Ausführungen folgt, umgeht man die gängigsten Kurzschlüsse der Profil-Debatte (zumindest meiner Meinung nach…).

Diakonie ist nicht gleich Diakonie – diakonisches Profil ist immer kontextabhängig

Die verschiedenen diakonischen Akteure unterscheiden sich sehr deutlich. Ein regionales Diakonisches Werk auf Kirchenkreisebene und ein Krankenhaus eines diakonischen Trägers haben auf den ersten Blick – und auch noch auf den zweiten und dritten – nicht viel gemeinsam, wenn man einmal von der Tatsache absieht, dass beide formaljuristisch Mitglied der Diakonie sind. Von Kirchengemeinden und anderen diakonischen Akteuren ganz zu schwiegen. Doch nicht nur die Akteure in der Diakonie-Landschaft unterscheiden sich, auch die Arbeitsfelder sind von völlig verschiedenen Rahmenbedingungen und inhaltlichen Dynamiken geprägt.

Man kann nun nicht einfach für die verschiedenen Akteure und für die verschiedenen Bereiche ein allgemeingültiges diakonisches Profil formulieren. Es gibt kein diakonisches Profil an und für sich. Oder aber man bleibt äußerst allgemein und abstrakt, dann aber um den Preis, dass das diakonische Profil wenig Berührung zum diakonischen Alltag und zu den konkreten Tätigkeiten hat. Und genau das sollte vermieden werden!

Diakonie entsteht im Handeln und im Deuten. Diakonie ergibt sich nicht aus einer Diakonie-Theorie

Der erste Satz klingt vielleicht unspektakulär, führt aber zu der wichtigen Konsequenz, dass diakonisches Profil nicht aus einer Theorie „abgeleitet“ werden kann. Deduktion ist kaum möglich, oder treffender gesagt: wenig sinnvoll. Diakonische Identität gibt es nicht an und für sich. Erst im Tätigsein, in der Auseinandersetzung und der Vergewisserung kann sich das zeigen, was Diakonie ist. Für das diakonische Profil bedeutet dies: Es geht nicht um eine deduktive Profilableitung sondern um eine induktive Profilvergewisserung (vgl. H.-G. Ziebertz, Sozialarbeit und Diakonie, Weinheim 1993, 152). Diakonische Bildung hat daher nicht die Aufgabe, zuvor definierte Profilaussagen zu vermitteln, die dann im diakonischen Alltag nur noch umgesetzt werden müssten, sondern immer wieder neu zum Prozess eigener Profilvergewisserung anzuregen. Diakonische Identitätsentwicklung und Profilbildung ist keine einmalige, abgeschlossene Aufgabe. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass beispielsweise der Bildungswert eines formulierten Einrichtungsleitbildes äußerst gering ist. Unter Nachhaltigkeits-Gesichtspunkten ist ein „fertig“ formuliertes Leitbild nicht viel mehr als dies: nice to have. Etwas ganz anderes ist die gemeinsame Erarbeitung eines Leitbilds.

Wichtig für diakonisches Profil ist das Konstitutive, nicht das Spezifische

Wenn man nach dem Wesentlichen der Diakonie sucht, ist die Unterscheidung von Konstitutivem und Spezifischem sehr hilfreich. Man kann auch von inklusiven und exklusiven Merkmalen des diakonischen Profils sprechen, das meint in etwa das Gleiche.

Es geht um Folgendes: Das Eigentliche der Diakonie darf nicht mit dem Einzigartigen der Diakonie verwechselt werden. Es ist fraglich, ob mit einem Bündel von Besonderheiten das Wesen der Diakonie zutreffend beschrieben werden kann. Das Spezifische fragt nach dem Besonderen, dem Einzigartigen; es entsteht aus der Abgrenzung gegenüber Anderem. Das Konstitutive fragt nach dem Wesentlichen, dem Bedeutsamen – egal, wie und ob dies auch bei Anderen so ist.

Ein hilfreiches Beispiel diesbezüglich stammt von Herbert Haslinger: Wenn man fragt, was das Spezifische am Katholizismus ist, würden sicherlich Papsttum oder Marienfrömmigkeit als erstes genannt werden. Würde man nun eine Liste mit all diesen Spezifika aufstellen, hätte man damit trotzdem in keinster Weise das Wesen des Katholizismus erfasst. Denn dazu zählen ganz besonders auch Elemente, die es in anderen Konfessionen (der Glaube an Jesus Christus), teilweise auch in anderen Religionen (Gebet, religiöse Gesänge, etc.) gibt. Dieses Beispiel ist leicht zu übertragen auf die Frage nach dem spezifischen bzw. konstitutiven Profil der Diakonie.

Das Spezifische beschreibt damit also gerade nicht das Eigentliche, sondern nur Sonder- und Spezialaspekte – und lenkt dadurch von der Sache ab. Eine Gegenprofilierung ist „keine gute Möglichkeit der diakonischen Profilentwicklung“ (H.-St. Haas, Diakoie Profil, Gütersloh 2004, 240), sie ist auch kaum in der Lage, überhaupt zum Wesentlichen vorzudringen, da sie sich immer an Spezifika verausgaben wird. Die Frage nach den Spezifika muss dabei nicht völlig aufgegeben werden: Sie kann nützlich sein, wenn man sie als Prüf-Kriterium einsetzt (um zu schauen, ob man nicht bestimmte Aspekte völlig übersehen hat), aber eben nicht als Such-Kriterium.

Diakonisches Profil meint weder etwas „Zusätzliches“ noch eine eigene „diakonische Fachlichkeit“

Diakonisches Profil wird oft als etwas „Zusätzliches“ wahrgenommen. Viele Mitarbeitende empfinden, dass das Diakonische etwas Zusätzliches ist, dass ein irgendwie geartetes „Mehr“ erwartet wird – und dass dieses „Mehr“ gerade an ihnen hängt: „Jetzt müssen wir nicht nur fachlich gut sein und den Alltag hier irgendwie überstehen – jetzt müssen wir auch noch besonders diakonisch sein!“ Oft ist es auch ein unterschwelliger Druck, was die Sache nur noch subtiler macht. Natürlich gibt es auch „zusätzliche“ Aspekte rund um das Thema „diakonisches Profil“. Aber meiner Meinung nach liegen diese dann eher auf Seiten des Trägers und nicht beim Mitarbeitenden. Beispielsweise eine Vernetzung mit anderen kirchlichen Institutionen, ein Augenmerk auf eine besondere Ästhetik in der Einrichtung oder die Einrichtung eines Andachtsraums – dies sind alles Sachen, die für den Träger etwas Zusätzliches bedeuten, aber nicht für das Handeln der Mitarbeitenden.

Es geht in der Diakonie wie in der Sozialen Arbeit allgemein um eine gute Fachlichkeit und um eine möglichst hohe Professionalität. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich denn nun die Fachlichkeit und das Diakonische zueinander verhalten. Es taucht immer mal wieder der Begriff einer „diakonischen Fachlichkeit“ auf. Dies ist in meinen Augen aber ein problematischer Begriff, denn er suggeriert, dass es neben pädagogischer, sozialarbeiterischer, therapeutischer oder pflegerischer Fachlichkeit eben auch noch eine eigene diakonische Fachlichkeit gäbe. Man kann dem kurz und prägnant entgegenhalten: „Es gibt kein evangelisches Poabwischen“ (E. Hauschildt: Wider die Identifikation von Diakonie und Kiche, PTh 89 (2000), 415). Es bringt daher wenig, von einem diakonischen Handeln auszugehen, dem eine andere Fachlichkeit innewohne. Es lohnt sich nicht, sich an dieser Front zu verkämpfen. Stattdessen geht es um eine gute Fachlichkeit. Heinz Rüegger und Christoph Sigrist, die eine äußerst empfehlenswerte Einführung in die Diakonie vorgelegt haben, betonen: „Wollen sich diakonische Dienstleistungsangebote profilieren, können sie es nur, indem sie nach allgemeingültigen Standards möglichst exzellent werden: fachlich qualifiziert, sozial und kommunikativ kompetent, innovativ, ethisch sensibel, kostenbewusst und kundenfreundlich“. (Rüegger/Sigrist: Diakonie – eine Einführung, Zürich 2011, 145).

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Diakonisches Profil gibt es nur konkret, nicht an und für sich. Es entsteht im Handeln und Deuten. Das Eigentliche muss nicht einzigartig sein

Inklusionslust

Das Thema Inklusion ist nicht nur in der Diakonie seit einigen Jahren ein Dauerbrenner, es ist mittlerweile auch in der Kirche „in“. Man muss nur einen Blick in die praktisch-theologische Literatur werfen: Johannes Eurich und Andreas Lob-Hüdepohl geben seit 2011 die Reihe Behinderung – Theologie – Kirche bei Kohlhammer heraus, als erster Band erschien Inklusive Kirche. Die Pastoraltheologie hat im März 2012 ein Heft zur Inklusion veröffentlicht, ebenso die Praktische Theologie mit ihrer Ausgabe 03/2012. Jüngst hat Chrismon Rheinland das Themenheft Debatte veröffentlicht, sozusagen als „Futter“ für die rheinische Synode 2013, die hier ihren inhaltlichen Schwerpunkt setzt. Es gibt noch etliche weitere Beispiele, die genannt werden können.

Aber nicht nur Theologie und Kirchenleitung beschäftigen sich mit Inklusion. Auch in den Kirchengemeinden kommt die Inklusionsdebatte an. Ich hatte in letzter Zeit öfter Kontakt mit Menschen aus sehr verschiedenen Gemeinden und ich habe immer wieder gestaunt, dort auf dieses Thema angesprochen zu werden. Meine subjektiven Beobachungen sind zwar nicht verallgemeinerbar, aber allein dass das der Begriff „Inklusion“ überhaupt bekannt ist (man muss sich klar machen, dass es nach wie vor ein Fachwort ist) und es als wichtiges kirchliches Thema identifiziert wird, hat mich positiv überrascht. Denn man muss realistischer Weise bedenken, dass viele Debatten, von denen man meint, dass sie für Kirchengemeinden wichtig seien, nicht unbedingt bis dorthin vordringen. Vieles, was Kirchenleitung, akademische Theologie oder Sozialwissenschaften gerne in den Gemeinden diskutiert sehen würden, findet dort keinen Widerhall. Daher sollte man hier einfach einmal anerkennend feststellen: Inklusion ist ein Thema, das in irgendeiner Art und Weise in Gemeinden resonanzfähig ist.

Woran mag das liegen? Vor circa 30 Jahren hat der Theologe Ulrich Bach für diese Ideen gekämpft, damals noch nicht unter dem Begriff Inklusion und auch mit einem sehr deutlichen Fokus auf der Integration von Menschen mit Behinderung in das Gemeindeleben. Und traurig, aber wahr: Ulrich Bach ist damit gescheitert. Seine Ideen fielen bei Kirchenleitungen und in Kirchengemeinden nicht auf fruchtbaren Boden – auch wenn ihm immer wieder bestätigt wurde, wie recht er damit doch habe. Schaut man sich Bachs Veröffentlichungstitel an, merkt man, dass er zunehmend verbitterter wurde.

Nun ist das Thema nicht kleiner und konkreter geworden (und damit leichter zu packen und besser umzusetzen) – im Gegenteil, es ist umfassender und zum Teil auch diffuser geworden. Und trotzdem setzt auf einmal eine Inklusionslust ein.

Was ist passiert? Einige Jahrzehnte sind vergangen: Die Gesellschaft hat sich verändert, der Fachdiskurs ist weitergegangen, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde veröffentlicht, und die Inklusionsidee konnte auf Vorläuferkonzepten aufbauen und diese weiterentwickeln. Ohne Normalisierungs- und Integrationsbestrebungen wäre die Inklusions-Idee vielleicht nicht da, wo sie jetzt ist. (Deshalb finde ich es auch immer sehr befremdlich, wenn auf vorausgehende pädagogische Konzepte draufgehauen wird, um so Inklusion im besseren Licht erscheinen zu lassen. Die aus heutiger Perspektive oft als defizitär erscheinenden Ansätze haben viel geleistet: nämlich den Boden beackert und das Feld bestellt. Wenn daher in der Anzeigenkampagne der Aktion Mensch Integration und Exklusion zu Illustrationszwecken auf dieselbe Stufe gestellt werden, um Inklusion von beidem abzuheben, dann finde ich das eine bodenlose Frechheit. Exkurs Ende).

Und was wohl auch zutrifft: Die Gesellschaft ist politisch korrekter geworden. Man kann einfach nicht gegen Inklusion sein. An dieser Stelle befremdet mich die Debatte um Inklusion aber auch immer wieder. Denn der Diskurs ist in meinen Augen äußerst euphemistisch angelegt, kritische Töne hört man selten. Die Angst, sich durch etwas Kritisches ins moralische Unrecht zu setzen, ist anscheinend groß.

Anders gesagt: Dafür sein kostet mich erst einmal nichts und ich zeige außerdem noch, dass ich einer von den Guten bin. Das ist aber leider wenig hilfreich. Wenn man nach der Rolle von Kirchengemeinden fragt, ist es daher vielleicht ganz sinnvoll, drei Ebenen zu unterscheiden: Die Ebene der Inklusions-Idee, die Ebene der Inklusions-Praxis und die des Inklusions-Diskurses.

Was können Kirchengemeinden nun tun?

Gemeinden haben zweierlei zu bieten: Die Kirche kann das Evangelium und die Inklusions-Idee miteinander in Beziehung bringen. Das liegt zum einen natürlich nahe, zum anderen sind da sicherlich auch noch Entdeckungen zu erwarten. Und die Kirchengemeinden können bei der Inklusions-Praxis herum experimentieren. Sie sind zu nichts verpflichtet, sondern können aus ihrem eigenen Antrieb Dinge ausprobieren, etwas besser machen, Erfahrungen sammeln. Das muss nicht gleich flächendeckend sein und es müssen auch keine Leuchtturmprojekte sein. Sondern einfach hier und da eine Idee gut umsetzen.

Beides ist sehr viel wert. Sich in der Inklusions-Debatte zu verausgaben ist hingegen nicht nötig. Kirchliche Resolutionen oder Bekenntnisse zur Inklusion verändern nichts. Und hat irgendjemand überhaupt noch den Überblick, wozu oder wogegen sich die Kirche in den letzten 50 Jahren alles bekannt hat!?

Zurück zur Praxis. Was sollte man bedenken, wenn man das Thema anpacken will? Vier kurze Hinweise:

  • Die Inklusionsidee sollte nicht auf das Thema Behinderung begrenzt werden. In diakonischen Einrichtugen ist dies hingegen oft der Fall, Kirchengemeinden sollten sich meiner Meinung nach an einem weiten Inklusionsverständnis orientieren.
  • Man sollte sich den Tendenzen verwehren, einer political correctness anheim zu fallen. Sobald p.c. um sich greift, ist die gute Idee verloren. Denn dann setzen Denkverbote ein. Wenn beispielsweise Kirchengemeinden bei dem Thema unbehaglich zu Mute ist (warum auch immer), dann sollen sie das sagen dürfen. Vielleicht haben sie etwas Wichtiges mitzuteilen.
  • Inklusion ist etwas Strukturelles bzw. eine Haltung, eine Kultur. Inklusion bedeutet nicht, Hilfsangebote für andere zu machen. Die Wahrnehmung muss entdiakonisiert werden.
  • Und das bedeutet schließlich: Nichts für andere machen, sondern füreinander machen. Und das geht nur miteinander. Will sagen: Inklusion bedeutet, mit der Beteiligung ernst zu machen.

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Die Inklusionsidee kommt in den Kirchengemeinden an und löst Resonanz aus. Jetzt sind gute Ideen gefragt, keine Resolutionen oder Denkverbote

Die Beteiligungsdimension stärken

Nun geht’s weiter mit meiner These: Kirche und Diakonie sollten sich stärker als Beteiliger verstehen und sich nicht ausschließlich auf ihre Rollen als Anbieter oder Dienstleister beschränken. Im letzten Beitrag ging es um Kirchengemeinden, nun stehen die diakonischen Einrichtungen im Vordergrund. Da diese beiden Organisationen doch recht unterschiedlich sind – gerade was Teilhabe und Beteiligung betrifft – kann man beide nicht in über einen Kamm scheren.

Wenn ich betone, dass die Diakonie die Beteiligungsdimension stärken soll, heißt das natürlich nicht, dass dies bisher in der Diakonie nicht vorkäme. Es geht mir einfach darum, diesen Aspekt deutlicher in den Vordergrund zu rücken. Denn die Rolle des Dienstleistungsanbieters oder Maßnahmendurchführers ist aufgrund der öffentlichen Refinanzierung doch wesentlich dominanter als die des Beteiligungsermöglicher. Und gerade die Finanzierungsfrage führt ja auch zu dem springenden Punkt: Haben diakonischen Träger überhaupt entsprechende Handlungsmöglichkeiten?

Das lässt sich pauschal kaum beantworten, aber nicht vergessen werden sollte: Wenn die Diakonie bei der  Beteiligungsdimension zur Ideenlosigkeit neigt, wird dies über kurz oder lang zur Identitätslosigkeit führen. Im Folgenden will ich drei ganz verschiedene Ansätze anreißen, was Beteiligung in der Diakonie bedeuten kann:

Beteiligung von vorne bis hinten: Co-Design diakonischer Handlungsansätze

Im ersten Semester Sozialarbeit lernt man: Die Kunden (Klienten, Nutzer, Betroffene – oder welchen Begriff man auch immer wählen mag) sind bei der Erbringung der Dienstleistung (Unterstützung, Beratung, Zuwendung – oder worum es auch immer gehen mag) zu beteiligen. Die Produktion sozialer Dienstleistungen geht nur gemeinsam mit dem Gegenüber, deshalb spricht man auch von Ko-Produktion. Das ist leicht nachvollziehbar, denn wenn der Andere nicht mitmacht, geht’s einfach nicht. Auch wenn das banal erscheint, neben dem uno-actu-Prinzip zählt dies zu den Grundlagen profesionellen sozialen Handelns.

Wenn man Beteiligung allerdings weiter fasst und als eine grundsätzliche Frage der Kultur und der Haltung versteht, kommt man über kurz oder lang zu der Erkenntnis, dass sich Beteiligung auf den gesamten Unterstützungsprozes beziehen sollte, von vorne bis hinten, inklusive Zieldefinitionen. Statt von Ko-Produktion im oben erwähnten Sinne könnte man dann gar von Co-Design sprechen. Auf diesen Begriff bin ich im Blog von Brigitte Reiser gestoßen – und er bringt diesen ersten Beteiligungs-Ansatz wunderbar auf den Punkt: Das gesamte Unterstützungs“design“ wird ko-produziert. Anspruchsvoll und herausfordernd! Allerdings wird sich dies wohl nicht selten an den (gesetzlich) definierten Vorgaben zur Erbringung der Sozialleistungen stoßen.

Befähigen zur Beteiligung: Eine diakonische Querschnittaufgabe

Die zweite Möglichkeit, die Beteiligunsgdimension zu stärken, setzt ganz anders an. Ausgangspunkt ist, dass Beteiligung bei Lichte betrachtet sehr voraussetzungsreich ist. Es braucht (mindestens) dreierlei: eine Idee davon, dass Beteiligung etwas Sinnvolles ist, die Fähigkeit, sich beteiligen zu können und schließlich die Chance, sich auch tatsächlich konkret einbringen zu können. Andersrum gesagt: Ich beteilige mich nicht, wenn ich überhaupt nicht weiß, was (mir) das bringen soll; ich beteilige mich nicht, wenn ich das Gefühl habe, es nicht zu können; ich beteilige mich nicht, wenn es keine Gelegenheiten gibt, dies zu tun.

Bei allem drei können diakonische Einrichtungen Unterstützung leisten: die Motivation zur Beteiligung wecken, Möglichkeiten bieten, Beteiligung zu „üben“ und helfen, die eigene Beteiligungsform (oder manchmal auch -nische) zu entdecken. Dies wäre die Querschnittaufgabe in sämtlichen diakonischen Handlungsfeldern, sie ist – mehr oder weniger – unabhängig von der „eigentlichen“ Maßnahme selbst.

Die Reflexion der Beteiligungsdimension als standardisiertes Verfahren: Beteiligungs-Mainstreaming

Und schließlich möchte ich noch einen dritten Ansatz nennen, wie mit der Beteiligungsfrage aus der Sicht der Organisation konstruktiv umgegangen werden kann. Die Idee ist simpel, aber gut (wenn sie konsequent umgesetzt wird): Diakonische Träger können eine Art „Beteiligungs-Mainstreaming“ in ihrer Organisation einzuführen. Wie beim Gender-Mainstreaming könnte man bei allem, was man tut, immer die Frage stellen: Welche Konsequenzen hat dies in puncto Beteiligungsmöglichkeiten?

Okay, vielleicht nicht bei allem, was man tut, aber an den entscheidenden Stellen: Bei der Reflexion der Unternehmensstrategie, bei der Entwicklung neuer Unterstützungsmaßnahmen, in Supervision und Teambesprechung. Der Knackpunkt ist also, dass man Beteiligungsprinzipien nicht einfach im Leitbild behauptet, sondern jede einzelne Maßnahme diakonischer Einrichtungen tatsächlich daraufhin überprüft, wie sehr sie Mitgestaltung und Mitentscheidung ermöglichen – oder auch verunmöglichen.

Worum es inhaltlich beim Beteiligungs-Mainstreaming geht, hängt einerseits vom Arbeitsfeld ab und andererseits – freilich – vom eigenen Verständnis, was Beteiligung meint, wie weit sie reicht und wie ernst man sie nimmt. Entscheidend ist nur, hieraus wirklich ein standardisiertes Verfahren in der Organisation zu machen.

Drei sehr unterschiedliche Ansätze, diakonische Einrichtungen stärker als Beteiliger zu entwickeln. Vielleicht ist ja etwas dabei…

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Teilhabebefähigung, Beteiligungsmainstreaming und Co-Design – die Diakonie hat viele Möglichkeiten, die Beteiligung zu stärken

Ein gemeinsames Drittes

Umso mehr ich über diakonisches Profil nachdenke, desto wichtiger wird mir eine Sache: Das Potenzial von kirchlichen und diakonischen Einrichtungen liegt darin, sich (wesentlich deutlicher) als Beteiligungsorganisationen zu verstehen. Diakonie und Kirche sind eben nicht nur Anbieter oder Dienstleister (das bleiben sie natürlich weiterhin), sondern sie sind vor allem Beteiliger. Für Kirchengemeinden bedeutet dies dann, ihre „Angebote“ daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie Beteiligungsprozesse ermöglichen, für diakonische Einrichtungen gilt dies entsprechend für ihre „Maßnahmen“.

Wie kann das gelingen? Zunächst einige Überlegungen für Kirchengemeinden – für diakonische Einrichtungen sieht das etwas anders aus, dazu schreibe ich ein andernmal etwas.

Will man eine Kirchengemeinde im Sinne von Teilhabe oder Beteiligung diakonisch profilieren, lautet die zentrale Leitfrage eben nicht: Gibt es einen Hilfebedarf? Sondern: Gibt es eine „gemeinsames Drittes“? Das meint: Gibt es eine gemeinsame Identifikationsmöglichkeit, jenseits der üblichen Rollen, die Beteiligung überhaupt erst ermöglicht?

Wenn Gemeinden ihre diakonische Dimension stärken wollen, wird sehr schnell in den Kategorien von „Hilfe-Subjekten“ und „Hilfe-Objekten“ gedacht. Die Gemeinde als Diakonie-Subjekt sucht nach Hilfe-Objekten, denen sie ihre Hilfe zuteil werden lassen kann. Das Diakonische einer Gemeinde kann aber gerade darin liegen, die Menschen eben nicht so sehr durch das Suchraster der Hilfsbedürftigkeit zu betrachten. Kirchengemeinden sind keine Sozialagenturen oder Wohlfahrtsverteilstellen – sondern Gemeinden.

Es ist viel wert, wenn die gängigen Einteilungen in Helfende und Geholfenen, in (vermeintlich) Starke und (vermeintlich) Schwache, in Priviligierte und Benachteiligte, in „Bürgerliche“ und „Marginalisierte“ an einer Stelle nicht relevant sind. Oder sagen wir realistischer: wenn diese Einteilungen mal nicht ganz so bestimmend sind. Denn die genannten Dualismen sind wirkmächtig und lassen sich nicht so einfach überwinden. Sie werden zu einem gewissen Grad immer bestehen bleiben, selbst dann, wenn man dies nicht will. Einfaches Wegmachen funktioniert nicht, und schlicht zu behaupten, diese diese Einteilungen theologisch gar nicht bestehen, hilft auch nicht weiter (auch wenn es natürlich stimmt).

Das Gemeindeleben müsste so ausgerichtet sein, dass diese unheilvollen Unterscheidungen unrelevant werden, zumindest zu einem gewissen Grad. Wie soll das gehen? In dem man eben ein „gemeinsames Drittes“ sucht, also ein Etwas, das gemeinsame Identifikation stiften kann.

Als solches bietet sich natürlich der Wohnort an: Das gemeinsame Stadtviertel, die Nachbarschaft, das Dorf, wofür es sich gemeinsam zu engagieren gilt. Deshalb ja auch meine Vorliebe für die Gemeinwesendiakonie.

Ein ganz anderes „gemeinsames Drittes“ ist zum Beispiel Musik, und zwar in erster Linie das gemeinsame Musikmachen. Der Musikgeschmack, das Musikhören, trennt. (Nicht ohne Grund ist die Vorliebe für bestimmte Musikstile ein entscheidender Milieu-Indikator.) Gemeinsames Musizieren (ob vokal oder instrumental) ist etwas Anderes. Denn das eint.

Und ein wiederum ganz anders geartetes „gemeinsames Drittes“ wären geteilte spirituelle Bedürfnisse oder Fragen. Doch mir scheint, dass „Marginalisierte“ mit ihren religiöse Fragen kaum wahr- und ernst genommen werden. Sie werden schnell in die Schublade der Hilfsbedürftigkeit gesteckt, was bei vielen gemeindlich Engagierten oft gleichbedeutend ist mit materieller Hilfsbedürftigkeit. Und bevor die Nicht-Bürgerlichen einen Schritt in die Kirche machen können, werden sie schon von einem fürsorglich denkenden Gemeindemitglied in die Kleiderkammer im Gemeindehaus umgeleitet. Was sollten Arme denn auch sonst von der Kirche wollen? Das mag polemisch klingen, aber so ist es doch oft.

Natürlich gibt es noch etliche weitere „gemeinsame Dritte“. Das Entscheidende ist, dass sie die Möglichkeit zur Rollenidentifikation bieten, in meinen Beispielen also als Stadtteilbewohner, als Musizierende, als spirituell Interessierte – und erst darüber ergibt sich dann Beteiligung. Damit kann Teilhabe aus der karitativen Falle befreit werden.

Es lohnt sich, zunächst einmal in diese Richtung zu denken, wenn man eine Gemeinde diakonisch profilieren möchte.

tl;dr
Kirchengemeinden sind keine Sozialagenturen – sondern Gemeinden. Gemeinsame Identifikation stiften ist besser als „helfen“

Diakonische Verbände auf Facebook

Vor zwei Monten hat Alexander Ebel von der Pfälzischen Landeskirche einen interessanten Beitrag über Evangelische Landeskirchen auf Facebook geschrieben. Somerpausenbedingt habe ich den etwas später zur Kenntnis genommen, mich dann aber gleich gefragt, wie dies wohl bei den Diakonie-Landesverbänden aussieht. Hier nun meine Recherche-Ergebnisse…

Sieben Landesverbände haben eine Facebook-Präsenz:

Und dann natürlich der Bundesverband:

Der erste Eindruck: Gute Facebook-Auftritte gibt es im Süden (Baden, Bayern und Württemberg) und beim Diakonischen Werk der EKBO. Auch der Bundesverband hat eine solide Facebook-Präsenz.

Bei den Titelbildern zeigt sich wieder, dass “diakonische” Symbolfotos eine schwierige Sache sind. Und bei den Profilbildern gibt es bei manchen Facebook-Auftritten nur ein Kronenkreuz. Besser wäre es, wenn ich am Profilbild sofort erkennen kann, welcher Verband es ist.

Bei keinem der Landesverbände kann ich erkennen, wer dort eigentlich postet. Wahrscheinlich ist es die Öffentlichkeitsabteilung. Es gibt aber kein Team, keine Namen, nix in dieser Hinsicht. Schade. Einzige Ausnahme: der Diakonie-Bundesverband. Und bei den Landeskirchen ist das zumindest bei der rheinischen und der pfälzischen der Fall.

Eine (klitze)kleine, aber feine Sache: Die Diakonie Baden nutzt die Möglichkeit der “Meilensteine”. Da steht zwar noch sehr wenig, aber die Idee ist gut.

Nach diesen Details nun zum Wichtigsten: Es fällt auf, dass sehr wenig geliket, noch weniger kommentiert und fast gar nichts geteilt wird. Dafür dass die Diakonie zu den bedeutendensten gesellschaftlichen/gesellschaftspolitischen Akteure zählt, ist das ziemlich mau. Dies bestätigt wieder einmal meine These, dass es keine wirkliche “diakonische Community” gibt (das hatte ich bereits beim Thema Bloggen erwähnt).

Der Diakonie Bundesverband hatte ja Anfang des Jahres eine Online-Diskussion gestartet. Die Beiträge hatten inhaltlich Substanz, und es wurde dort auch nicht rumgetrollt – also wirklich ein guter Anfang! Allerdings: Die Gesamtzahl der Diskutanten war nicht sehr hoch, dafür der Anteil der “beruflichen” Diskussionsteilnehmer unter ihnen (also Funktionäre im weitesten Sinne). Auch hier auf dem Blog wird nicht so viel diskutiert – ich bekomme mehr private Mails und Anrufe (!) und dabei bin ich über die Besucherzahlen keineswegs unzufrieden.

Also: eine richtige Debattierlust scheint es nicht zu geben.

Eigentlich stellen die Mitarbeitenden in der Diakonie doch schon mal eine große Masse, sozusagen eine riesige Homebase, dar. Ich habe aber grundsätzlich den Eindruck, dass es bei vielen Mitarbeitenden keine große Lust gibt, sich über das Ausmaß der beruflichen Tätigkeit “diakonisch” zu engagieren. Ich kann es ihnen nicht verdenken – eine Image- und Commitment-Katastrophe ist das allerdings schon. Für mich ist die Zukuftsaufgabe der Diakonie daher, eine Art diakonisches Community-Buildung zu forcieren, die eigene Szene aufzubauen und zu pflegen. Genau hier mus die Energie hin – und nicht in diese unerträglichen Dienstgemeinschaftsüberbaudiskurse.

Es ist wirklich schade, welche Chancen da auch die Mitarbeitenden und diakonisch Engagierten vergeben, Diakoniepolitisches kritisch zu kommentieren. Das bedeutet aber auch, dass ein PR-Desaster wie bei KitKat kein diakonischer Verband zu befürchten hat.

Man könnte aber auch noch ganz anders fragen, nämlich: Ist Diakonie überhaupt ein Thema? Ist “Diakonie” nicht viel zu breit – und daher thematisch diffus? Der eine interessiert sich für Obachloseninitiativen in Hessen, der nächste für ein Kinderhospiz und wieder ein anderer für die Diakonie-Katastrophenhilfe. Das kann man alles unter einer “diakonischen” Klammer zusammenbinden – muss man aber nicht. Wo suchen diese Menschen im Internet (und auf Facebook) nach entsprechenden Diskussionen und Informationen? Unter der “Dachmarke Diakonie”?

Sicherlich (auch) aus diesem Grund gibt es mehrere eigene Facebook-Seiten der Diakonie-Landesverbände zum Freiwilligen Sozialen Jahr bzw. zum Bufdi. Auch hier einmal schnell die Übersicht:

Dass es diese Seiten gibt, ist gut. Dass es bei einigen Verbänden nur diese Auftritte gibt, könnte darauf schließen lassen, dass die Meinung vorherrscht, dass Facebook “halt etwas für junge Leute ist…”!?

Abschließend einige Fragen zum Weiterdenken:

  • Was ist das Ziel solcher Facebook-Seiten? Das Absetzen von Pressemeldungen oder das Anstoßen von Debatten? Beides hat seinen Wert – wenn es aber um Diskurse geht, könnte man vielleicht darüber nachdenken, die Auftritte der Landeskirchen zu stärken und diakonisch zu bespielen? Denn momentan läuft da – zumindest von der Masse her – mehr.
  • Während mich als kirchlicher Mitarbeiter die protestantische Vielfalt (nicht die inhaltliche Vielfalt, sondern die Doppel-, Dreifach-, Neben- und Durcheinanderstrukturen) manchmal fast an den Rande des Wahnsinns treibt, sehe ich dies bei den Möglichkeiten, die social media bietet, genau anders: Hier liebe ich Vielfalt, die sich untereinander verknüpft und vernetzt, Bezug aufeinander nimmt und sich voneinander abgrenzt, sich hoch- und runterschaukelt. Auch kleine Klitschen können großartige social media-Dinger hochziehen (vielleicht gerade?). Allerdings sollte man sich hier den Hinweis von Ralf Peter Reimann von der Internetarbeit der rheinischen Kirche zu Herzen nehmen: Wir sind nur Gast auf Facebook!
  • Eine weitere Frage: Welchen Sinn macht es (und wie kann es gelingen), stärker zu personalisieren? Viele Stellungsnahmen im diakonischen/kirchlichen/sozialen/politischen Bereich sind Konsensformulierungen bzw. diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet (was auch okay ist). Debatten brauchen aber Personen, die diese Debatten führen. Hier bin ich noch etwas ratlos, wie das gelingen kann…
  • Den mittel- bis langfristigen Aufbau einer diakonisch interessierten und engagierten Community (nicht nur der Mitarbeitenden, aber eben auch) habe ich ja bereits erwähnt.
  • Und schließlich muss dringend darüber nachgedacht werden, wie “Betroffene” bzw. “Klienten” (ja, blöde Begriffe…) in die Diskurse reinkommen. Die Caritas hatte da mal einen guten Vorstoß gemacht (hauptsächlich aufs Bloggen bezogen), hier muss man weiter dran arbeiten.

Glaubenssätze

Seit einigen Tagen ist die neue Image-Kampagne der Diakonie am Start. Sie hat den Titel In der Nächsten Nähe und läuft in diesem und im kommenden Jahr.

„Sie zeigt, was Diakonie glaubwürdig und wesenhaft ausmacht und zwar jenseits aller tagespolitischen Bezüge und Diskussionen. Dazu wurden die Menschen befragt, die Diakonie im Alltag in den vielen bundesweiten Einrichtungen, Diensten, Verbänden und Unternehmen verkörpern: die Mitarbeitenden.“

Damit hebt sie sich deutlich von der Kampagne Mitten im Leben (2007/2008) ab, in der die Mitarbeitenden schematisch und schemenhaft im Hintergund blieben. Dass die Mitarbeitenden nun in dieser Deutlichkeit nach vorn rücken, ist gut und angemessen. Gleichzeitig stehen sie aber nicht im Vordergrund, die fünf Motive stellen die Beziehung zwischen den abgebildeten Menschen dar. Das ist stimmig.

„Glaubwürdigkeit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort für die neue Kampagne: Die Kampagne gewährt reportageartige Einblicke in Arbeitsfelder der Diakonie, sie zeigt tatsächliche Mitarbeitende, wirkliche betreute Menschen, wahre Beziehungen, reale Örtlichkeiten und echte Gefühle. Teilweise arbeiten die abgebildeten Menschen auf den Plakaten seit Jahren zusammen. Nichts an dieser Kampagne ist in irgendeiner Weise künstlich, beschönigt oder gestellt, nicht einmal die Zitate, die nur sprachlich geglättet wurden.“

Und die fünf Zitate gefallen mir wirklich gut. Sie lauten:

„Ich glaube, kein Lebensabend sollte dunkel sein.“

„Ich glaube, dass Glück keine Behinderung kennt.“

„Ich glaube, dass Heimat im Herzen beginnt.“

„Ich glaube an die Stärken der Schwächsten.“

„Ich glaube, dass Menschlichkeit das wertvollste Medikament ist.“

Komplexes einfach rüberbringen ist eine hohe Kunst. Und wie will man deutlich machen, dass Diakonie etwas mit Glauben zu tun hat, ohne ein Kreuz aufzuhängen oder eine Bibel ins Bild zu rücken? Schwierig. Hier gelingt es auf subtile Art. Es gibt keine religiösen Symbole auf den Motiven (um nicht falsch verstanden zu werden: Ich mag religiöse Symbole, sehr sogar, aber auf inszenierten Motiven wirken sie oft deplaziert und aufdringlich). Stattdessen Glaubensaussagen: Jedes Statement beginnt mit „Ich glaube…“.

Die Glaubensaussagen beziehen sich auf den konkreten Kontext der diakonischen Arbeit. Auch das ist gut, denn es gibt kein allgemeingültiges, auf alle Arbeitsfelder zutreffendes diakonisches Profil. Diakonisches Profil ist immer kontextabhängig, Diakonie entsteht im Handeln und Deuten, also konkret. Schaut man sich die Sätze genauer an, merkt man, wie gehaltvoll sie sind (und dass sie gut formuliert sind). Induktive Theologie – das ist in meinen Augen genau der richtige Ansatz, „diakonisch“ Theologie zu treiben.

Woran glaube ich eigentlich in meinem diakonischen Handeln? Von welchen Glaubenssätzen lasse ich mich leiten? Was wirkt da tief in mir drin, das letztlich meine Fachlichkeit bestimmt? Mentale Modelle sind immer stärker und wirkmächtiger als Fachkonzepte und Einrichtungsleitbilder. Das Ganze ist daher für mich nicht nur eine Plakatkampagne, sondern stellt auch eine didaktisch gute Idee dar, die man leicht aufgreifen kann: Einfach mal die Mitarbeitenden fragen, woran sie glauben und welche Bedeutung dies für ihre Arbeit hat.

Daher finde ich es schade, dass man diese fünf Aussagen rahmt, sie wieder einfangen will mit dem doch recht pastoral anmutenden Vers „In der Nächsten Nähe“. Ich verstehe, dass eine Kampagne einen Claim braucht. Aber die zitierten Glaubensaussagen der Mitarbeitenden gehen über das Motiv der Nähe weit hinaus. Da haben wir dann doch wieder ein deduktives Theologietreiben. Und das geht so: Diakonie ist Nächstenliebe – und deshalb suchen wir jetzt mal Aussagen, die zu Nächstenliebe passen. Das, was man dann gefunden hat, ist komplexer und tiefgründiger als „Nähe“ und „Zuwendung“. Man tütet es dann aber theologisch („Nächstenliebe“) bzw. marketingmäßig („In der Nächsten Nähe“) wieder ein.

Und noch eine Sache sollte man überdenken: Warum hat man für die Plakatreihe vier weibliche und einen männlichen Mitarbeitenden gewählt? Nun, man könnte darauf antworten, dass dieses quantitative Verhältnis exakt der Situation in der Diakonie entspricht (siehe hier, S. 10). Ungeschickt finde ich das trotzdem. Und was sagen wir dazu, dass der männliche Mitarbeiter – natürlich – über den höchsten Bildungsabschluss verfügt? Irgendwie nicht so richtig durchgegendert…

Trotzdem ist es eine gute Kampagne.

Siehe auch meinen Kommentar Endlich mehr Männer und meine Beiträge in der Rubrik „Kampagnen“.

Diakonische Evolution

1971 erschien von Gerhard Noske „Die beiden Wurzeln der Diakonie“ (nur noch antiquarisch erhältlich). Noske beschreibt darin zwei Quellen, aus denen sich diakonisches Handeln speist. Oder um im Bild Noskes zu bleiben: Diakonie lebt aus dem Zusammenwirken „zweier weitverästelter Wurzeln“. Der eine Wurzelstrang ist der menschliche Hilfstrieb, der andere die Hilfe im Kraftbereich des Christusglaubens. Auch wenn für Noske Letzteres das „spezifische Wesensmerkmal“ der Diakonie ist, stellt er doch klar, dass Diakonie aus dem Zusammenwirken beider Wurzeln erwächst.

So Manches an Noskes Ausführungen wirkt heute etwas befremdlich, das Besondere ist aber, dass Noske eben von zwei Wurzeln ausgeht, dass er neben christologischen Begründungen auch schöpfungstheologische Motive heranzieht. Die Begründung des Selbstverständnisses der Diakonie begann sich zu wandeln bzw. zu erweitern. Heute rücken schöpfungstheologische Reflexionen wesentlich stärker in den Vordergrund, zuletzt noch einmal sehr deutlich von Heinz Rüegger und Christoph Sigrist herausgearbeitet.

In dieser Argumentation kommt man dann über kurz oder lang zu der Frage, ob der Mensch grundsätzlich ein sorgendes und pflegendes Wesen ist, also bereits in seinem Bauplan ein “diakonischer” Trieb angelegt ist, oder ob Zuwendung über die pure Arterhaltung hinaus immer nur ein Phänomen in bestimmten historischen und situativen Nischen gewesen ist.

Anders gefragt: Ist “Diakonie” – nicht als Organisation sondern als Handlungsmotiv verstanden – ein konstitutiver Zug des Menschseins oder ist sie eher so etwas wie dessen Gegenprogramm, weil der Mensch grundsätzlich egoistisch angelegt ist? Michael Blume sieht durch die Evolutionsforschung eindeutig die erstere These bestätigt:

“Auch evolutionswissenschaftlich halte ich den Sozialdarwinismus für schlichtweg falsch. Der Mensch wurde, wie schon Darwin zu Recht erkannte, gerade in seiner Evolution zum “sozialen Tier” und konnte sich nur so – in vertrauensvoller Gemeinschaft – zu einem (einigermaßen) intelligenten Lebewesen mit langer Kindheit und also gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln. Ohne mitmenschliche Diakonie (wörtlich: Dienst), ohne Caritas (wörtlich: Nächstenliebe) hätte sich auch kein Homo sapiens sapiens entwickeln können.”

Der Natur des Glaubens-Blogger hat für das gerade erschienene Buch Geistesgegenwärtig pflegen (herausgegeben von Johannes Stockmeier, Astrid Giebel und Heike Lubatsch), einen Artikel zur “Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen” beigesteuert. Dort kommt er zu dem Schluss:

“Die sich immer deutlicher abzeichnende Antwort der modernen Evolutionsforschung hat in sehr direkter Weise mit Erfahrungen der Diakonie zu tun: Es ist das Zeugnis der glaubwürdigen Tat, im evolutionsbiologischen Jargon das “Glaubwürdigkeit steigernde” oder auch einfach “ehrliche Signal” [H. Jospeh 2009]. Menschen schließen sich häufiger den Gemeinschaften an, in denen ein Zusammenhang zwischen gepredigten Ansprüchen und Taten hin zu Verbindlichkeit, Gegegnseitigkeit und, ja, Liebe erkennbar ist. […] Und evolutionär ist das mehr als schlüssig, schließlich gehen wir alle auf Vorfahren zurück, die über viele tausende Generationen hinweg ausreichend richtige Entscheidungen getroffen haben. […] Ja, mit Egoismus, Aggression und Betrug haben Menschen zu kämpfen, noch bevor sie Menschen wurden. Aber nur jene, denen es dennoch immer wieder gelang, auch lebensförderliche Gemeinschaften zu errichten und zu erhalten, gehören zu unseren Vorfahren” (Michael Blume 2012; S. 288, 288, 289).

Diakonie – in einem recht weiten Verständnis – hat den Menschen erst zu dem werden lassen, was er ist. Gerade die Sorge auch für diejenigen Menschen, die für Clan, Sippe oder Kollektiv streng genommen gar keinen Nutzen mehr aufwiesen (wie z.B. alte Kranke), wird wohl ein Grund gewesen sein, sich eben zu diesen Gemeinschaften zu halten. Und von Menschen aus diesen Gemeinschaften stammen wir ab.

Evolutionswissenschaftlich gesehen ist Diakonie in uns angelegt (ob wir dies als Diakonie interpretieren und dann auch so benennen, ist noch einmal eine andere Frage). Ich muss gestehen: Das gefällt mir.

Michael Blume: Pflege und Religiosität in der Naturgeschichte des Menschen, in: Stockmeier/Giebel/Lubatsch (Hg.): Geistesgegenwärtig pflegen, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2012, 283-293. Michael Blume stellt seinen Artikel auch als PDF zur Verfügung.

Vom teuren und vom billigen Teilen

In Diakonie und Kirche hat das Motiv des Teilens eine große Bedeutung. Das klassischste aller klassischen Beispiele ist natürlich Martin von Tours, wie er seinen Mantel mit einem Armen teilt. Das Wesentliche an dieser Art des Teilens ist: Das, was der eine hat, hat der andere nicht mehr. Theoretisch gesprochen: Der Mantel ist ein rivales Gut. Es hat sich verzehrt, vermindert – und das ist der Preis des Teilens. Teilen kostet.

Es gibt noch eine andere Variante des Teilens. Sie ist ein Bestandteil der Ein-Klick-Beteiligungs-Trias „Gefällt mir – Kommentieren – Teilen“. Teilen meint hier Verbreiten, und das bedeutet nichts anderes als Vervielfältigen. Mathematisch gesprochen geht es also ums Multiplizieren, das Manteilteilen ist hingegen Dividieren. Zwei völlig verschiedene Arten des Teilens also: Manches verzehrt sich durchs Teilen, Anderes vermehrt sich durchs Teilen.

Kester Brewin hält das Teilen, das einen nichts kostet, für eine verarmte Art des Teilens. Interessanter Gedanke.

„But there’s a sense in which this sort of sharing does not cost me anything. And actually, that’s an impoverished view of what sharing should be about.

In the traditional sense, sharing has also been about hospitality. If I share my food with someone hungry, then that is rivalrous sharing, and that actually costs something. If I share my wealth, my property, my time – these are all things that are costly“ (Kester Brewin).

Das heißt nun nicht, dass nur teures Teilen gutes Teilen ist. Aber billiges Teilen allein ist schon etwas armseelig. Das, was dabei verloren geht, ist die Dimension von Gastfreundschaft (hospitality).

Teilhabe: nehmen, geben, sein

Teilhabe ist in aller Munde. Die Verwendung des Begriffs weist im sozialen Bereich mittlerweile eine deutlich inflationäre Tendenz auf. Das hat seinen Ursprung natürlich im SGB IX, das den Teilhabe-Begriff ja im Titel trägt: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Doch in Folge dessen wird im Sozialsektor auf einmal jede Maßnahme, jede Intervention, jede Sozialleistung zu einer Teilhabeleistung, die sozialen Organisationen – allen voran die Diakonie – sind nun Teilhabe(leistungs)anbieter.

Wenn man einmal von dieser Bedeutung von „Teilhabe“ absieht, ist es ein recht abstrakter Begriff. Teilhabe erschließt sich nicht so leicht. Der Begriff drückt mehr aus als einfach nur Beteiligung bzw. Partizipation. Trotzdem wird immer von dieser Bedeutung ausgegangen, wenn der Begriff „Teilhabe“ in andere Sprachen übersetzt werden soll. Denn Teilhabe ist eines jener deutschen Wörter, das in anderen Sprachen kein eindeutiges Äquivalent hat. (Wie zum Beispiel auch der Begriff „Bildung“, der immer als „Erziehung“ übersetzt wird oder der Begriff „Sucht“, den es in anderen Sprachen nur als „Abhängigkeit“ gibt.)

Also: Teilhabe = Beteiligung. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Was ist also das „Mehr“ oder das Besondere dieses Begriffs? Ich versuche nun einen Zugang zum Teilhabe-Begriff zu bekommen, in dem ich die verschiedenen Facetten auffächere, die für Teilhabe meiner Meinung (Ahnung?) nach wesentlich sind.

Teilhabe hat für mich drei konstitutive Dimensionen, die ich mit einer kleinen „Formel“ ausdrücken will:

Teilhabe = Teilnahme + Teilgabe + Teil sein.

Die Pluszeichen drücken dabei aber keine summarische Addition aus, sonder sollen einfach die Dimensionen anzeigen, die Wesenselemente. Diese will ich kurz erläutern.

Teilhaben bedeutet zunächst einmal – schlicht und einfach – Teilnehmen. Das mag Manchem vielleicht etwas zu schlicht sein, aber nichtsdestotrotz ist es in meinen Augen eine wesentliche Facette von Teilhabe. Teilhabe besteht zu einem guten Teil aus – sozialer, kultureller, politischer, religiöser, wirtschaftlicher, … – Teilnahme. Teilnahme setzt Aktivität voraus, denn nur jeder selbst kann an etwas teilnehmen (man kann nicht „teilgenommen werden“), trotzdem kann Teilnehmen von der Sache her recht passiv sein, es hat etwas Konsumierendes. Man nimmt mehr als man gibt (was aber auch völlig in Ordnung sein kann).

Teilhaben bedeutet auch, sich einzubringen, etwas von sich zu geben, etwas beizutragen. In letzter Zeit gesellt sich immer häufiger das Kunstwort „Teilgabe“ zur „Teilhabe“ hinzu. Ich meine auch eine deutliche Tendenz dieser Verwendung im kirchlichen Bereich ausmachen zu können. Der Grundgedanke ist, dass es schließlich nicht nur ums „Haben“ geht, sondern auch ums „Geben“. Ich finde das völlig richtig, aber ich will die beiden Begriffe nicht gegenüberstellen. Teilgabe ist für mich eine Dimension von Teilhabe und nicht ein komplementäres Element zur Teilhabe.

Teilhaben vollzieht sich aber auch jenseits vom bloßen Geben und Nehmen. Teihaben bedeutet auch, Teil (von etwas) zu sein. Teilhabe ist für mich sogar ganz wesentlich Teil sein. Ich bin Teil eines kleineren oder größeren Kollektivs, besser natürlich, wenn ich Teil sein kann von vielen verschiedenen Kollektiven. Teilhaben heißt in diesem Sinne, sich zugehörig zu fühlen, eingebunden zu sein. Teil sein kann einfach dabeisein bedeuten (auch das hat seinen Wert!), es meint aber vor allem dazu zu gehören.

Teilhabeleistungen sollen daher ermöglichen, partizipieren zu können (teilnehmen), sich einbringen zu können (teilgeben) und dabeisein oder dazugehören zu können (teilsein). Damit ist noch nichts gesagt über die Frage, worauf sich Teilhabe inhaltlich bezieht (also: Teilhabe an was?), aber vielleicht ist dies zumindest ein pragmatischer Zugang, um sich den Teilhabe-Begriff zu erschließen.

Was macht dich glücklich?

Man nehme: Eine einfache Frage, eine Kamera und Interesse am Anderen.

Man erhält:

Amen.

Was macht dich glücklich? Was eine solch einfache Frage so alles hervorrufen kann – und welche Tiefenschichten sie erreicht.

Was mir auffällt: Wie intim dieses Thema ist.

Was ich nicht so ganz verstehe: Warum beschäftigt sich die Theologie (vor allem die protestantische Variante) so wenig mit der Frage nach dem Glück? Ist die Frage zu trivial? Ich finde die Antworten im Video jedenfalls alles andere als banal. Ist Glück ein theologisch zu schlichtes Konzept? Für mich nicht. Soweit ich weiß (man möge mich bitte korrigieren, wenn ich da falsch liege), hat Glück zudem eine inhaltliche Nähe zu Segen und Fülle. Worum geht’s denn eigentlich im Leben? Um so existenzielle Dinge wie glücklich sein, erfüllt sein, gesegnet sein. Ganz einfach, und doch so schwer.

Was mich nachdenken lässt: Stellen wir diese Frage zu selten? Uns selbst? Unseren Menschenbrüdern und -schwestern? Und vor allem: Stellen wir als Professionelle in Diakonie und Sozialer Arbeit diese Frage zu selten? Weil sie zu pathetisch ist, weil sie uns peinlich ist, weil sie unprofessionell wirkt? Ich habe zweieinhalb Jahre in der Glücksspielsuchthilfe gearbeitet und nie jemanden gefragt, was ihn eigentlich glücklich macht. Mann.

Die Wahrnehmung entdiakonisieren

Die Pastoraltheologie hat eine ganze Ausgabe dem Thema Inklusion gewidmet (Pastoraltheologie, 101. Jg., H. 3, 2012). Und an einer Stelle bin ich hängen geblieben: Erst habe ich mich ein bisschen darüber geärgert, dann habe ich es verstanden – um es dann richtig gut zu finden!

Es geht um Folgendes: Ulf Liedke widmet sich der Frage, wie Menschen mit Behinderungen im Gemeindeleben vorkommen können – und zwar als Gemeindeglieder, nicht als „Behinderte“. Seine These: Es bedarf in den Kirchengemeinden einer dringenden Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen (und ich ergänze: aller Menschen, die in irgendeiner Weise als „benachteiligt“, „marginalisiert“ oder „arm“ gelten):

Mein Plädoyer für die Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen bedeutet deshalb nicht, die diakonische Dimension gemeindlichen Handelns zu verabschieden. Vielmehr geht es darum, nicht in die Wahrnehmungsfalle zu tappen, bei der ‚Behinderung‘ beinahe zwangsläufig mit ‚Diakonie‘ assoziiert wird. (…) Menschen mit Behinderung (…) sind Glieder und nicht Klienten der Gemeinde. Die ungeteilte Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist keine Einbahnstraße, die nur für Hilfstransporte zugelassen wäre“ (Ulf Liedke 2012: 82).

Entdiakonisierung. Ein neues Wort. Ich habe mich erst darüber geärgert, weil Diakonie natürlich mein Anliegen ist. Ich möchte ja, dass Gemeinden diakonischer werden. Da ist so ein Wort kontraproduktiv – als wenn eine Diakonisierung etwas Schlechtes wäre. Ist sie nicht! Inhaltlich fand ich die Gedanken durchaus gut, auch die Formulierung mit der Hilfstransporte-Einbahnstraße gefiel mir. Erst beim mehrmaligen Lesen fiel mir dann das Entscheidende auf: Liedke spricht von einer Entdiakonisierung der Wahrnehmung! Augen auf beim Lesen hilft.

Entdiakonisierung der Wahrnehmung. Von der Sache her ist diese Forderung nicht neu. Genau das war es, wofür sich Ulrich Bach bereits vor dreißig Jahren vehement eingesetzt hat. Aber die Formulierung Entdiakonisierung der Wahrnehmung von Ulf Liedke wird in den nächsten Jahren in der Diakonie noch Karriere machen. Hoffen wir es!

Ulf Liedke: Menschen. Leben. Vielfalt. Inklusion als Gabe und Aufgabe für Kirchengemeinden, Pastoraltheologie 101 (2012), 71-86.

Soziale Medien in sozialen Organisationen. Einige Erkenntnisse aus der Blogparade

Durch die CCCD-Blogparade (siehe dazu meinen vorherigen Beitrag) konnte ich einige Entdeckungen machen: mir bisher nicht bekannte Blogs und neue Erkenntnisse über das Verhältnis von sozialen Medien und sozialen Organisationen. Hier einnmal ein subjektiver Ausschnitt, immer mit der Frage im Hinterkopf, was dies alles für die Diakonie bedeuten kann.

Marcel Gluschak beschreibt eine oft anzutreffende Haltung von Nonprofit-Organisationen gegenüber den sozialen Medien, die meiner Meinung nach auch für Kirche und Diakonie zutrifft:

„Bis vor wenigen Jahren war es selbstverständlich, dass eine Organisation ihre gesamte Kommunikation zentral steuern konnte. Wann welches Thema wichtig war, entschieden die Experten, nicht die Unterstützer. Seit Social Media haben NPOs diese Steuerung nicht mehr komplett in ihrer Hand. Das ist irgendwie unheimlich – doch auf der anderen Seite will man auch bloß keinen Trend verpassen oder neue Zielgruppen ausgrenzen. Das Resultat ist oft ein Social Media-Aktionismus, bei dem es eher darum geht, die Effekte von Social Media zu nutzen, als ihre strukturelle Wirkungskraft.“

Daher ist es ganz interessant, einmal einen Blick darauf zu werfen, welche social media-Kanäle denn in sozialen Organisationen überhaupt genutzt werden. Katrin Kiefer führt seit 2009 eine jährliche Erhebung zu den social media-Kanälen von NGOs durch. Interessanter Weise zählt zu ihrer Stichprobe (jeweils 20 Organisationen aus den Bereichen Naturschutz, Internationales und Soziale Dienste) auch der Diakonie-Bundesverband. Pi mal Daumen zwei Drittel dieser 60 Organisationen haben einen Youtube-Kanal, Facebook-Profile und Twitter-Accounts, und ein Drittel betreibt Blogs. Interssant wäre es sicherlich, solch eine Untersuchung speziell für die Diakonie durchzuführen. Und dann auch zu fragen, wozu diese Formate eingesetzt und was mit ihnen erreicht werden soll.

Beim Einsatz von social media geht es sozialen Organisationen vorrangig um Information und Marketing, dialogische oder stärker politische Intentionen stehen dahinter zurück, bemängelt Julia Russau. Den Grund dafür sieht sie darin, dass die sozialen Medien vor allem als Reaktionsmöglichkeit auf die drängenden (ökonomischen) Herausforderungen sozialer Organisationen eingesetzt werden:

„Die großen Themen, mit denen sich soziale Organisationen zurzeit beschäftigen, scheinen vor allem drei: Finanzen, Image und Fachkräftemangel. So ist es kaum verwunderlich, das diese Ausrichtung auch in den Social Media-Aktivitäten deutlich wird, die vornehmlich auf Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit oder Personalrekrutierung zielen.“

Marc Boos betreut die social media-Initiativen der Caritas und bringt ein Beispiel an, das die Schwierigkeiten beim Einsatz sozialer Medien gut illustriert: Beim Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin hat sich auch die Caritas mit einem Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr beteiligt. Gute Sache, doch der Vorschlag zur Legalisierung von Cannabis konnte sich über das Zweihundertfache an Unterstützern freuen – und brachte es damit auf den Tisch von Frau Merkel.

Die (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände müssen sich daher wohl noch stärker mit der Frage beschäftigen, wie es gelingen kann, sich effektiv für und mit anderen einzusetzen. Hier haben diese Verbände auch etliches an Erfahrung vorzuweisen – neu sind hingegen die Herausforderungen  digitaler Beteiligungsprozesse.

„Um dem gerecht zu werden, muss die Caritas in der Bürgergesellschaft aktiv und präsent sein. Das gilt vor Ort, wo sich Caritasvertreter an Bürgerplattformen beteiligen, in sozialraumorientierten Projekten auf die Eigeninitiative und Selbsthilfe der Bevölkerung setzen oder die Freiwilligenzentren des Verbandes mit unterschiedlichen Partnern kooperieren. Und es gilt für das Internet, in dem soziale Medien und soziale Netzwerke neue Formen der Beteiligung und des Dialogs möglich machen“ (Marc Boos).

Dies führt dann auch direkt zu einer weiteren Frage: Wie kann man beim Thema Beteiligung die „Offliner“ ins Netz bringen?

Genau hier bringt Brigitte Reiser es sehr gut auf den Punkt, wenn sie für die digitale Inklusion als essentielles Thema sozialer Organisationen plädiert:

„Für manche Organisationen im Dritten Sektor ist die digitale Inklusion ihrer Mitglieder und Klienten aber kein Thema, für das sie sich verantwortlich halten. Viele bleiben ganz eng ihrem Dienstleistungszweck verhaftet, und der hat in der Regel nichts mit dem Internet zu tun. Aber eine gemeinnützige Organisation ist mehr als nur ein Dienstleister. Sie ist Teil unseres demokratischen Gemeinwesens und spielt eine wichtige Rolle als zivilgesellschaftlicher Akteur. Dazu gehört auch, dass sie ihre Arbeit für und mit den Stakeholdern um eine digitale Dimension erweitert und jene mit nimmt, die bisher von den Online-Beteiligungsmöglichkeiten ausgeschlossen sind.“

An dieser Stelle noch einmal zur Caritas: Dass eine digitale Inklusion nicht nur eine akademische Idee ist, sondern ein umsetzbares Projekt mit vielfältigen Effekten, hat die Caritas schon 2009 mit dem Blog-Projekt Mitten am Rand beeindruckend unter Beweis gestellt.

Der Begriff „digitale Inklusion“ gefällt mir gut. Teilhabe- und Inklusionsprozesse müssen die Möglichkeiten digitaler Beteiligung viel stärker in den Mittelpunkt rücken. Allerdings darf hier auch nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden. Marcel Gluschak warnt deshalb auch davor, dass der Einsatz von social media nicht als Alternative zu klassischen Engagementformen verstanden werden darf.

„Konventionelle Instrumente, nicht zuletzt im Offline-Bereich, behalten ihre Bedeutung und funktionieren im Idealfall in der Wechselwirkung mit Social Media. Das soziale Netz bietet großartige Möglichkeiten für die Aktivierung der Zivilgesellschaft – es sollte ebenso wenig unterschätzt wie überschätzt werden.“

Denn sonst leistet man einem neuen Problem Vorschub: dem Slacktivism (die Ausgabe #21 des Enter-Magazins widmet sich genau diesem Phänomen).

Den Analogien von diakonischem Selbstverständnis und sozialen Medien auf der Spur

„Wie steht es um die Nutzung sozialer Medien in gemeinnützigen Organisationen?“ Das ist eine der Leitfragen der gerade laufenden Blogparade „Social Media in der Bürgergesellschaft“ des Centrum für Corporate Citizenship Deutschland (CCCD).

Immer mehr diakonische Einrichtungen und Werke nutzen soziale Medien. In der Regel werden die klassischen Formate genutzt: Facebook-Seite, Twitter-Account, Sharing-Buttons auf der Internetseite, hin und wieder mal ein Youtube-Kanal. Ist das nun eine positive Entwicklung?

Wenn man sich die überschwenglich optimistischen Einschätzungen bezüglich social media zu eigen macht, dann sicherlich. Soziale Medien sind im Trend, und die Diakonie macht mit. Doch mir scheint, dass vor allem die technischen Möglichkeiten im Vordergrund stehen. Dabei ist das Innovative von social media nicht, dass es nun neue mediale Formen gibt, sondern dass diese Formen „sozial“ sind: Weg vom reinen Sender-Modell hin zu ganz neuen Formen der Partizipation und Teilhabe.

Daher interessiert mich auch vor allem die soziale Bedeutung von social media, weniger die technischen Möglichkeiten. Und gerade die soziale Seite der sozialen Medien ist für die Diakonie ein spannendes Thema. Die entscheidende Frage für diakonische Einrichtungen und Werke ist daher auch nicht, ob sie eine facebook-Seite (oder was auch immer) vorweisen können, sondern ob sie verstanden haben, was social media im Kern bedeutet. Und was dies mit ihrem Auftrag, ihrem Selbstverständnis zu tun hat.

Auch wenn sich im Bereich von Kirche und Diakonie viel tut in Sachen soziale Medien, ist Einiges doch recht ernüchternd. Denn hinter so manchen Web 2.0-Projekten verbergen sich eher Einbahnstraßen-Kanäle, über die man Infos absetzen will. Das hat mit dem „Sozialen“ der sozialen Medien wenig zu tun. Wenn die Twitter- oder Facebook-Accounts hauptsächlich auf rundgelutschte PR-Informationen verlinken, werden zwar hits und clicks erzeugt, aber keine Teilhabeprozesse ermöglicht.

Deshalb ist die Gretchen-Frage bezüglich social media: „Wie hältst du es mit der Beteiligung?“ (und eben nicht: „Twitterst du auch?“). Ist tatsächlich Beteiligung erwünscht? Wenn ja, in welcher Form? Und was ist mit „Beteiligung“ eigentlich gemeint? Stellt ein Link oder ein Like schon eine Beteiligung dar? Was passiert, wenn Beteiligung in eine andere Richtung läuft als erwartet oder gewünscht – wird das social media-Format dann wieder eingestellt? Inwiefern Sind social media-einsetzende Organisationen eigentlich fähig zur Responsivität?

Meine These ist, dass der Grundgedanke der Diakonie und der Kern von social media eigentlich wunderbar zusammen passen. Um was geht es in der Diakonie, was will die Diakonie? Leider werden die möglichen Antworten zu oft und zu schnell auf „Helfen“ oder „soziale Dienstleistungen anbieten“ eingedampft. Aber Diakonie ist mehr. In meinem Beitrag Was ist Diakonie? (#4) hatte ich ja in Rückgriff auf die Bratislava-Erklärung auf fünf Dimensionen hingewiesen: Dienstleistungsfunktion, kulturelle Dimension, gemeinschaftsbildende Dimension, aktivierende Dimension und gesellschaftspolitische Dimension (ich bin immer noch nicht ganz zufrieden mit dieser Aufzählung, aber belassen wir es für den Moment einmal dabei).

Soziale Medien können Werbung (Spendenakquise, Imagepflege, Mitarbeitergewinnung,…) für die diakonischen Dienstleistungen machen und diesbezüglich zum Markenaufbau und zur Markenpflege beitragen. Okay, nichts dagegen einzuwenden, aber dies allein ist schon eine ziemliche Banalisierung. Spannend wird es doch gerade erst bei den anderen genannten Dimensionen: Soziale Medien können gemeinschaftsbildend sein, sie können einen kulturellen Beitrag leisten (die technische und soziale Beherrschung von sozialen Medien ist ja selbst schon ein kulturelles Gut), sie könen aktivieren (und wie!), sie können gesellschaftspolitischen Einfluss generieren.

Alle fünf Dimensionen kann man nun detailliert betrachten, da steckt eine ganze Menge drin. Ich möchte an dieser Stelle nur einen Hinweis zur gemeinschaftsbildenden Dimension geben.

Diakonie und Gemeinschaft gehören eng zusammen. Gemeinschaftsbildung ist in sich schon diakonisch. Und auch umgekehrt: Wenn ich diakonisch handeln will, ist es eine Möglichkeit, Gemeinschaften zu bilden (irgendwie mag ich ja die englische „Community“ lieber als die „Gemeinschaft“, sie hat mehr Facetten). Communities zu bilden ist urdiakonisch. Ob zielgruppenspezifische Communities (wie zum Beispiel diese hier), zielgruppenübergreifende Ansätze wie in der Gemeinwesendiakonie, Mitarbeitenden-Communities oder die Community von christlich engagierten Weltverbesseren – und es gibt noch zig Gemeinschaftsformen mehr… Aufgabe der Diakonie ist das Communitybuilding. Und ein Kern von social media ist, genau: das Communitybuildung.

Wie gesagt, man kann nun alle Aufgaben/Funktionen/Dimensionen der Diakonie nacheinander abklopfen und die Analogien zu social media suchen. In einem zweiten Schritt kann man dann schauen, welches technische Format der sich ständige entwickelnden sozialen Medien geeignet ist, den diakonischen Auftrag innovativ umzusetzen. Aber das ist tatsächlich erst der zweite Schritt.

Ist social media nun eine gute Entwicklung für die Diakonie? Voll und ganz. Denn die soziale Dimension der sozialen Medien hat eine Menge gemeinsam mit dem, was Diakonie will. Und sie kann ein Katalysator für die Frage nach dem Selbstverständis der Diakonie sein.

Das ist doch mal was.

Leseempfehlungen: Das CCCD hat eine Publikation zu neuen Chancen internetgestützer Beteiligung herausgebracht, darin gibt es eine Abschnitt zur Caritas (S. 19-20), der auch für die Diakonie erkenntnisreich ist. Stefan Zollondz (Gruß nach Bielefeld!) bloggt Beobachtungen zum Einsatz von social media in der AWO. Und mein Beitrag über Gunter Duecks Vortrag auf der re:publica 11 könnte auch ganz interessant sein.

Diakonie als soziale Bewegung?

Mario Junglas, Direktor des Berlines Büros des Deutschen Caritaverbandes, hat einen inspirierenden Artikel zur Entwicklung der Caritas geschrieben. Die Caritas muss mehr Zivilgesellschaft wagen ist der Titel, erschienen ist er im neue caritas-Jahrbuch 2012. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber der Artikel ist schon fast ein kleines Manifest. Und er gilt ohne Abstriche genauso für die Diakonie. Deshalb kann man ohne Weiteres auch immer Diakonie denken, wenn Junglas von Caritas spricht. Und weil der Artikel nicht online verfügbar ist, zitiere ich mal etwas ausführlicher. (UPDATE 2012-04-22: mittlerweile doch online)

Junglas‘ Anliegen ist es, die Caritas stärker als eine soziale Bewegung zu verstehen:

„Für die Caritas der Kirche genügte es lange, als Verein oder Gruppe, als Einrichtung und Dienst antreffbar zu sein. Das ist nicht vorbei, reicht aber nicht mehr aus. Caritas muss soziale Bewegung sein“ (S. 77).

Die Diakonie und die Caritas sehen sich ja immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, aufgrund der öffentlichen Refinanzierung eher ein unselbständiger Teil des Sozialstaats zu sein als ein autonomer Akteur. Und ein anderer, aber ähnlich gelagerter Vorwurf besagt, dass Caritas- und Diakonie-Einrichtungen durch ihre Ausrichtung als Unternehmen eher Teil des Marktes sind. Beiden Vorwürfen ist gemeinsam, dass die konfessionellen Verbände und Einrichtungen gar nicht in dem Maße Zivilgesellschaft sind, wie sie es immer wieder gerne betonen.

„Gerade die kritisierte Staatsnähe und Marktnähe machen aber die Rolle der Caritas als zivilgesellschaftlichen Akteur fragwürdig, trotz der vielen Ehrenamtlichen. Für viele ist die Caritas kein kreativ herausforderndes Gegenüber zu Staat und Wirtschaft, sondern selbst Teil dieser Ordnungen“ (S. 78).

Man könnte nun einfach sagen: Ja, und? Es ist doch eine Menge wert, dass Diakonie und Caritas leistungsstarke Träger (Unternehmen) und gefragte Sozialexperten (Verbände) sind. Dass stimmt und steht auch gar nicht zur Disposition. Denn Verbands- und Trägeraufgabe haben natürlich Vorteile…:

„Die Caritas ist hochverlässlich. Das ist ein Trumpf sowohl bei der Leistungserbringung als auch in der politischen Debatte und in der Lobbyarbeit. Mit der Verlässlichkeit korrespondiert zugleich eine hohe Berechenbarkeit. Von der Caritas sind in der Regel keine Überraschungen zu erwarten. Man kann sich nicht nur auf sie verlassen, man kann sie einkalkulieren.“

… aber auch Nachteile:

„Das kann uninteressant machen für andere innovative, veränderungswillige gesellschaftliche Kräfte und kann die Versuchung schüren, die Caritas einzurechnen ohne sie einzubeziehen. Als Bewegung kann die Caritas verlässlich bleiben, ohne vollständig berechenbar zu sein, weil sie das enge Korsett verbandlichen und unternehmerischen Handelns durch überraschende und herausfordernde Formen und Inhalte sprengt“ (S. 81).

Denn:

Die Caritas „muss auch noch politisch handlungsfähig sein, wenn Expertentum nicht gefragt oder inopportun ist und klassische Lobbyarbeit an ihre Grenzen kommt“ (S. 78).

Mario Junglas möchte in der Caritas also das Bewusstsein stärken, sich deutlicher als soziale Bewegung zu verstehen – das ist gemeint, wenn es im Titel seines Beitrags heißt: „Mehr Zivilgesellschaft wagen“. Aber es geht nicht nur darum, sich als Bewegung zu verstehen, sondern auch die Strukturen der Caritas dementsprechend neu auszurichten. Dabei soll die Handlungslogik der Bewegung nun nicht die beiden anderen Handlungslogiken verdrängen, sondern ergänzen. Die Caritas ist Kirche – und nutzt dazu eben die ganz verschiedenen Handlungs- und Kommunikationsformen einer Institution (Verband), einer Organisation (Unternehmen oder Einrichtung) und einer Bewegung (Zivilgesellschaft). Caritas und Diakonie erweitern also ihre Handlungs-, Kommunikations- und Mitwirkungsformen, wenn sie sich Logik und Instrumentarium sozialer Bewegungen öffnen.

Wirft man einen Blick in die Leitbilder von Diakonie (DW-EKD) und Caritas (DCV), kann man eine wundersame Entdeckung machen. Der katholische Verband betont ausdrücklich sein Verständnis als soziale Bewegung, bei dem evangelischen Verband ist dieser Gedanke nicht ganz so deutlich ausgeprägt. Man hätte es ja gerade anders herum erwarten können…

Im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes heißt es im Abschnitt zum Organisationsprofil:

„(16) Der Deutsche Caritasverband ist Teil der Sozialbewegung. (…) (19) Er unterstützt den ehrenamtlichen caritativen Einsatz in Pfarrgemeinden, Verbänden, Gruppen und Initiativen. (…) (21) Er fördert die Idee einer Sozialbewegung und arbeitet mit sozial engagierten Menschen, Initiativen und Organisationen zusammen an der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft“ (Leitbild Caritas, Abschnitt III).

Eine vergleichbare Aussage im Leitbild Diakonie lautet:

„Durch unsere Arbeit in den Kirchengemeinden, Diensten und Einrichtungen sind wir Menschen nahe. Selbsthilfegruppen und Initiativen finden bei uns ihren Raum.“ (Leibild Diakonie, 6.These).

Darüber hinaus steckt der Gedanke der Sozialbewegung noch in den Erläuterungen zur 4. These („Wir sind aus einer lebendigen Tradition innovativ“) als historische Wurzel und zur 8. These („Wir setzen uns ein für das Leben in der einen Welt“) bezogen auf das ökumenische Engagement der Diakonie. Überspitzt gesagt heißt das: Diakonie ist soziale Bewegung, aber hauptsächlich damals und woanders.

Man muss nun natürlich beachten, dass es sich hierbei lediglich um die papierene Wirklichkeit handelt, die faktische kann noch einmal ganz anders aussehen. Wie steht es mit der Idee der sozialen Bewegung in der Diakonie, unabhängig von vorhandenen oder nicht vorhandenen Leitbildformulierungen? 2006 ist ein Diakonie-Text erschienen mit dem aussagekräftigen Titel: „Kirchliche Soziale Arbeit und soziale Bewegung – eine Nichtbeziehung?“ (Diakonie Texte 12/2006). Diakonie und soziale Bewegung scheinen also eher ein Gegenüber zu sein. Daher geht Franz Segbers genau der richtigen Frage nach, wenn er sich in seinem Vortrag, der der Publikation zugrunde liegt, mit der Diakonie als soziale Bewegung beschäftigt. Segbers These lautet:

„Es reicht nicht aus, die halbierte Modernisierung der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungsfunktion lediglich durch eine Professionalisierung der anwaltschaftlichen Funktion zu überwinden. (…) Erst wenn die Diakonie sich zivilgesellschaftlich definiert, kann sie in angemessener Weise auf die neue Sozialstaatlichkeit reagieren (…) Eine Diakonie, die nicht steckengeblieben ist in einer halbierten Modernisierung, wird zivilgesellschaftliches Engagement mit dem Ziel fördern, demokratische Strukturen zu beleben und Ausschlussprozesse zu verhindern“ (Franz Segbers: Diakonie als soziale Bewegung, Diakonie Texte 12/2006, S. 13, 13, 15).

Aus Mario Junglas‘ Plädoyer kann man zudem schließen, dass es mit der Caritas als soziale Bewegung auch noch nicht so weit sein kann, denn er wirbt schließlich leidenschaftlich dafür, sich dementsprechend neu auszurichten.

„Dass die Caritas (Teil der) soziale(n) Bewegung, „Bewegungsorganisation“ sein soll, ist eine alte, noch einzulösende Forderung ihres Selbstverständnisses. Ohne euphorisch zu sein, kann man feststellen: Die Zeiten waren dafür noch nie so günstig wie heute“ (S. 82).

Wie gesagt: eine lesenswerte Inspiration!

Tafelfreude

Vor kurzem erzählte mir ein Jugendreferent, dass bei der Renovierung eines gemeindlichen Jugendzentrums überlegt wurde, den Hauptraum mit einer einzigen langen Tafel auszustatten. Durchgesetzt hatte sich dann schließlich die pragmatische Lösung mit kleinen Einzeltischen. Für ein Jugendzentrum ist solch eine funktionale Betischung (gibt es dieses Wort, oder gibt es nur die klassische „Bestuhlung“?) sicherlich auch angemessen. Bemerkenswert fand ich aber, dass die Tafel-Idee wirklich in der Diskussion war.

Und dann kamen im Gespräch immer mehr Tafel-Erlebnisse auf den Tisch: Bei einer „Nacht der Kirchen“ wurde in einer Kirche vom Altar bis weit hinaus auf die Straße eine Tafel aufgebaut, bei einem Stadtteilfest stand auf der gesperrten Hauptstraße einfach eine lange Tafel, und jeder konnte kommen und etwas mitbringen (das erinnert ja ein bisschen hieran). Tafel wirkt anscheinend.

Und eben das hat mich nachhaltig beschäftigt. Was wirkt? Ich denke, es hat wohl mit den folgenden beiden Aspekten zu tun.

Zunächst: Schon allein das Bild der Tafel hat etwas Faszinierendes. Die einfache Form, das Gemeinsame und – in den meisten Fällen – das Mahl. Ich frage mich, ob die Tafel eigentlich auch ein archetypisches Urbild ist? Es spricht meines Erachtens einiges dafür (aber ich kenne mich zu wenig mit der psychoanalytischen Tradition aus). Jesus hat mit seinen Jüngern wohl nicht an einer Tafel sondern eher in einem Hock-/Sitz-Kreis das letzte Mahl gefeiert, aber Leonardo da Vincis Vorstellung der Abendmahls-Tafel hat Einzug gehalten in unsere kollektive Bilderwelt – und regt immer wieder zur Auseinandersetzung an (wie zum Beispiel diese hier).

Durch die Erzählung des Jugendreferenten ist mir noch etwas Bedeutendes klar geworden: Eine Tafel stellt quasi eine räumliche Intervention dar. Hätte sich das Jugendzentrum tatsächlich für eine Tafel als einziges Möbelstück entschieden, wäre es ein anderes Jugendzentrum. (Innen-)Architektur verändert nicht nur den physischen Raum, auch den Sozialraum.

Vor einiger Zeit war ich in einem Berliner Hotel, in dessen Frühstücksraum eine sehr lange Tafel steht (siehe hier). Wer genau hinschaut, sieht, dass es auch noch Nischen gibt, um nicht gezwungen zu sein, an der Tafel Platz zu nehmen. Für das Hotel ist dies vielleicht einfach nur ein stylisher Akzent, aber mich hatte es trotzdem beeindruckt. Wie ich schon sagte: Tafel wirkt.

Siehe auch meinen Beitrag Diakonische Tische.

Soviel du brauchst

Die Losung für den nächsten Kirchentag – 2013 in Hamburg – steht fest:

Soviel du brauchst (2. Mose 16,18).

Wir befinden uns in der Exodus-Erzählung. Das Volk Israel ist aus Ägypten ausgezogen und leidet auf seiner Wanderung durch die Wüste große Not. Gott lässt Brot vom Himmel regnen – Manna – und die Leute sollen es einsammeln. Wer wenig gesammelt hat, hat dennoch nicht zu wenig, und wer viel gesammelt hat, hat dennoch nicht zu viel. Die Generalsekräterin Ellen Ueberschär betont zwei Seiten des soviel du brauchst. Zum einen: Es ist genügend da. Zum anderen: Verbrauche nur so viel, wie wirklich nötig ist (Pressemitteilung). Und damit hat diese wundervolle Geschichte vielfältige diakonische Anknüpfungspunkte.

Ich bin kein großer Freund davon, einige (wenige) biblische Geschichten als „typisch diakonische“ Geschichten darzustellen. In der Diakonie geschieht dies oft, Platz 1 belegt natürlich der Barmherzige Samariter (Lk 10), dicht gefolgt von Jesu Rede vom Weltgericht (Mt 25). Nichts gegen diese Bibelstellen (ganz im Gegenteil!), aber das sind für mich nicht die Diakonie-Bibelstellen, so als würde es eine Art „diakonisches Sondergut“ in der Bibel geben. Reizvoller und auch hilfreicher ist es, in der ganzen Breite der biblischen Überlieferung diakonische Momente zu entdecken. Eine Reduktion auf zwei, drei, vier Bibelstellen ist recht platt. Und allzu schnell schleicht sich dann auch noch in den Auslegungen ein appellierend-moralisierender Unterton ein (auch hierfür sind die beiden genannten Texte wieder sehr gute Beispiele). Nein, diakonisch relevant ist eine ganze Menge in der Bibel. Und die Bibelstelle, aus der das soviel du brauchst entnommen wurde, gehört dazu.

Dies ist eine von zahlreichen biblischen Geschichten, in denen es um Mangel und Fülle geht. Es ist ein wiederkehrendes biblisches Motiv: die Erfahrung von Mangel und die Hoffnung auf Fülle. Oder auch so herum: die Angst vor Mangel und die Erfahrung von Fülle. Dieses Motiv geht dabei weit über seine materiellen Dimensionen hinaus (auch wenn es natürlich in der materiellen Dimension als besonders erschütternd erlebt wird).

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass das biblische Mangel/Fülle-Motiv im diakonischen Bereich eher wenig aufgegriffen wird. Wie gehen wir mit den enstprechenden Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen um? Werden im diakonischen Handeln nicht viel mehr Energien verzehrt durch ein permanentes Abarbeiten am Mangel, als neue Energien geweckt durch die Hoffnung auf oder die Erfahrung von Fülle? Ist so ein Satz wie soviel du brauchst in der diakonischen Arbeit nicht eher eine Zumutung, etwas Zynisches? Wenn ich hierüber nachdenke, merke ich, was für eine wunderbare Losung dies ist. Die Diakonie kann hierzu auf vielfältige Art ihre Erfahrungen einbringen – und sich vom Mangel/Fülle-Motiv durchaus auch herausfordern lassen…

mit-für

Ein gängiges Motiv in der Debatte ums diakonische Selbstverständnis ist die so genannte Option für die Armen. „Diese Beschreibung der Ausrichtung diakonischen Engagements gilt heute schon fast als ein Muss, wenn man politically correct von Diakonie reden will“, so kommentieren es Heinz Rüegger und Christoph Sigrist in ihrer klugen wie streitbaren Einführung in die Diakonie (Zürich 2011, S. 175).

In dem Papier Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel, der derzeit aktuellsten Veröffentlichung der Diakonie zu ihrem Selbstverständnis, erhält das befreiungstheologische Motiv der Option für die Armen dann auch eine herausgehobene Stellung. Es wird zwar nicht grundlegend reflektiert, aber es ist das theologische Motiv, das für die Darstellung des diakonischen Selbstverständnisses am häufigsten bemüht wird, nämlich gleich achtmal (S. 15, 24, 64, 86, 86, 87, 122, 122).

Die Formulierung „Option für die Armen“ stößt aber auch immer wieder auf Kritik (die nebenbei bemerkt ebenso zur political correctness der Diakonie gehört): Es ist die Kritik an dem Wörtchen „für“. Denn diese Formulierung scheint genau das noch einmal zu betonen, von dem man sich eigentlich lösen will: die Für-Struktur diakonischen Handelns, die Für-Sorge. Die Mit-Struktur, das Mit- statt Füreinander wird immer stärker gefordert und ist ja auch vielfach konzeptionelle Grundlage diakonischen Handelns.

Allen Liebhabern der Formulierung „Option für die Armen“ wird daher sicherlich der folgende Hinweis gefallen, dass im Spanischen – sozusagen im befreiungstheologischen Urtext – das Wörtchen „por“ eigentlich „mit-für“ heißt:

„Die „opción por los pobres“ weist auf einen wichtigen Gesichtspunkt hin, den die deutsche Übersetzung „Option für die Armen“ nicht einzufangen vermag: Das spanische Wort „por“ heißt nicht nur „für“, sondern vielmehr „mit-für“. Diese Bedeutungsnuance schließt die Überzeugung ein, dass eine Option , die für die Armen ausgesprochen wird, nur zusammen mit den Armen möglich ist (…)“ (Stefanie Kainzbauer, Caritative Befähigungspraxis, Münster 2011, S. 19).

Das war mir neu und ich finde es bemerkenswert.

Wo zeigt sich diakonisches Profil?

Worin zeigt sich das konfessionelle Profil von Diakonie und Caritas? Eine oft gestellte Frage, die – auch wenn es auf den ersten Blick merkwürdig erscheint – gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ein großer Gewinn ist es daher, wenn man zunächst einmal die Suchrichtung bestimmt, um diese Frage zu beanworten. Anders gesagt: Wo sucht man denn nun sinnvoller Weise nach diakonischem Profil?

Michael N. Ebertz, Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg, schlägt sieben Dimensionen vor, in denen sich die Eigenart konfessioneller Einrichtung niederschlagen kann. Er bezieht sich dabei auf die Caritas, aber dies gilt natürlich ebenso für die Diakonie:

  • die Dimension der strukturellen Einbettung
  • die Dimension der individuellen Motivation
  • die Dimension der symbolischen Integration
  • die Dimension der interaktiven Gestaltung
  • die Dimension der religiös angeleiteten Methodik
  • die Dimension der kommunitären caritativen Kultur
  • die Dimension der christlichen Weisheit

(Michael N. Ebertz: Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat? Herausforderungen von Professionalität und Konfessionalität, Manuskript, o.J., S. 8-13).

Auf ähnliche Dimensionen habe ich auch in dem Beitrag unverwechselbar, erkennbar, unterscheidbar hingewiesen.