Das Wort Diakonie gibt es natürlich nicht im Plural. Aber mit dieser nicht ganz korrekten Überschrift möchte ich auf die Vielfalt der unterschiedlichen Diakonie-Formen hinweisen. Diakonie ist eben nicht gleich Diakonie. Beispielsweise sind die Gemeinsamkeiten zwischen einer diakonisch orientierten Gemeinde und einem diakonischen Unternehmen recht gering. Beides ist aber Diakonie. Natürlich kann man einen gemeinsamen Nenner formulieren, die Frage ist nur, wie hilfreich dies für Diakoniewissenschaft wie -praxis ist. Die Gefahr liegt darin, dass entweder diesem gemeinsamen Nenner Gewalt angetan wird (um ihn überhaupt formulieren zu können) oder dass die Besonderheiten und Eigenarten der unterschiedlichen Diakonie-Typen vernachlässigt werden (zu Gunsten eines allgemeingültigen Diakonieverständnisses).
Bei der Frage nach dem diakonischen Selbstverständnis hat sich die folgende kleine Diakonie-Typologie als sehr hilfreich erwiesen, mit der ich in letzter Zeit oft gearbeitet habe. Sie ist rein beschreibender Natur, folgt also keinem normativen Ansatz, und ist leicht verständlich. Diese Typologie beschreibt die Organisationsformen, nicht die Aufgaben von Diakonie. All das, was als Diakonie bezeichnet wird, kann man einem der folgenden Akteurstypen zurechnen. Sicherlich kann man dies auch noch feiner unterteilen.
Diakonische Einrichtungen. Dies ist der Diakonietyp, der die öffentliche Wahrnehmung von Diakonie am stärksten prägt. Viele reichen geschichtlich bis in die Gründerzeit der Inneren Mission zurück. Einige entwickelten sich zu „diakonischen Anstalten“, die heute meist als Komplexeinrichtungen bezeichnet werden (es gibt meines Wissens mittlerweile keine diakonische Einrichtung mehr, die in ihrem Namen noch die Bezeichnung „Anstalt“ trägt). Neben den großen Komplexeinrichtungen gibt es eine Vielzahl von diakonischen (Einzel-)Einrichtungen, in der Regel sind sie als e.V., Stiftung oder GmbH organisiert.
Diakonische Gemeinden. Im Gegensatz zum Begriff „Gemeindediakonie“ (der eher normativ ist) wähle ich an dieser Stelle die Bezeichnung „diakonische Gemeinde“. Das diakonische Grundprogramm von Kirchengemeinden ist zwar sehr gering: Fürbitte („diakonisches Gebet“), Kollekte und (Pfarrer-)Diakoniekasse. Aber es gibt eine wachsende Anzahl diakonisch orientierter Gemeinden, die in ihrer ambitionierten Arbeit von den anderen Diakonieformen manchmal unterschätzt werden.
Regionale Diakonische Werke (DWs). Sie bilden die flächendeckende diakonische Grundstruktur. Kernbestandteil sind meist Beratungsstellen. Wesentlich für diesen Diakonie-Typ ist der kommunalpolitische Bezug und die Brückenfunktion zwischen den „organisiert diakonischen“ und „verfasst kirchlichen“ Systmen. Die regionalen Diakonischen Werke unterscheiden sich von Landeskirche zu Landeskirche zum Teil deutlich.
Diakonische Social Business-Organisationen. Zugegeben, der Begriff ist nicht schön, aber ich kenne derzeit keinen besseren. Hierbei handelt es sich um Einzelorganisationen, die von der Initiative von social entrepreneurs leben, also von Menschen mit „Macher-Qualitäten“, die ein soziales Problem mit unternehmerischen Mitteln angehen wollen. Es sind durch und durch unternehmerische Projekte, aber weniger im Sinne von „durchökonomisiert“, sondern im Sinne der eigentlichen Wortbedeutung: etwas unternehmen. Social Business-Organisationen entwickeln sich oft in zwei Richtungen: Es werden neue Standorte eröffnet und sie vergrößern ihren politischen Einfluss. Sie bleiben dabei ihrem Schwerpunkt treu, etwickeln sich also nicht zu neuen Komplexeinrichtungen. Im freikirchlichen Bereich sind Social Business-Organisationen wesentlich verbreiteter, im „Mainline-Protestantismus“ in Deutschland ist man hier sehr zurückhaltend mit dieser Diakonieform. Meines Erachtens wird dieser Diakonie-Typ aber stark zunehmen, insofern wird sich irgendwann auch die Begriffsfrage klären. Und noch eine letzte Bemerkung: Die in der Gründerzeit der Inneren Mission entstandenen Anstalten und Werke haben aus heutiger Sicht als Social Business-Organisationen begonnen.
Diakonische Fachverbände. Auch Verbände zur politischen Einflussnahme und fachlichen Weiterentwicklung können als eigenständige Diakonieform gelten. Das Besondere an dieser Diakonie-Form ist, dass sie selbst nicht Träger von konkreten diakonischen Dienstleistungen und Angeboten sind. Aber da die strukturelle Bekämpfung von Not und die Gestaltung von Strukturen durch politische Einflussnahme eine urdiakonische Aufgabe ist, ist das, was diese Verbände machen, selbst auch Diakonie.
Kommunitäre Basisgemeinschaften sind eine nicht zu vergessene Diakonieform. Hier sind es Einzelpersonen oder Familien, die nach alternativen Lebensentwürfen und Sozialformen suchen und sich gemeinschaftlich zusammenschließen. Auch viele Evangelische Kommunitäten haben ein starkes diakonisches Engagement.
Und schließlich stellen die Werke der diakonischen Entwicklungsarbeit eine eigenständige Diakonieform dar, wie Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt, Hoffnung für Osteuropa oder Evangelischer Entwicklungsdienst.
Es gibt vielfache Überschneidungen. In manchen diakonisch engagierten Kirchengemeinden sind Beratungsstellen entstanden, die mittlerweile an die Ausmaße eines kleinen Diakonischen Werkes heranreichen. Einige Diakonische Werke entwickeln sich zu diakonischen Unternehmen und übernehmen auch deren Handlungslogik. Aus kommunitär geprägten Basisgemeinschaften entwickeln sich zum Teil Social Business-Organisationen. Und so weiter, und so weiter…
Die Unterscheidung dieser Typen und die Wertschätzung ihrer Unterschiede helfen falsche Erwartungen zu klären und Missverständnisse auszuräumen. Fragt man nach den Möglichkeiten und Grenzen dieser sieben Typen, sollten vor allem die unterschiedlichen Rollen, Motive und Handlungslogiken reflektiert werden. Anhand dieser Unterschiede werden dann auch die Schwierigkeiten zwischen den einzelnen Diakonieformen, die es zuweilen gibt, deutlich und verständlich. Das bedeutet aber auch, dass jede dieser Diakonieform ein eigenes Selbstverständnis hat. Denn es gibt eben nicht das diakonische Selbstverständnis, sondern ausschließlich kontextbezogene Diakonieverständnisse. Und diese können durchaus in Konkurrenz zu anderen Selbstverständnissen stehen.
UPDATE 2012-01-07: Ich habe in letzter Zeit an mehreren Stellen wieder mit dieser Typologie gearbeitet und merke immer mehr, dass tatsächlich eine Form fehlt – wie im Kommentar (s.u.) ja bereits angedeutet: Initiativen und Projektgruppen. Oft entstehen sie in Gemeinden (oder deren Umfeld), sind aber nicht mit diesen gleichzusetzen. Sie sind flüchtiger als die anderen Formen, aber ihre Stärke liegt darin, dass sie oft schneller und flexibler sind und vor allem monothematisch ausgerichtet sind (was sich ja auch gegenseitig bedingt). Umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, wie ich sie eigentlich vergessen konnte! Vielleicht lag es an der Siebenerzahl…