Archiv der Kategorie: Teilhabe

Die Inklusions-Denkschrift der EKD

Ende Januar ist die Orientierungshilfe der EKD zur Inklusion [PDF] erschienen. In Anlehnung an eine viel beachtete Rede von Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1993 trägt sie den Titel: Es ist normal, verschieden zu sein.

Mir gefällt die Denkschrift. Kurz auf den Punkt gebracht: Sie ist unaufgeregt gut. Sie hat keinen moralinen oder pathetischen Duktus, sondern sie ist fachlich solide, theologisch nüchtern (und nicht katechetisierend) und liest sich auch noch recht flüssig.

Und – auch das ist erwähnenswert – sie ist ehrlich gegenüber der eigenen kirchlichen Paxis:

„Die gegenwärtige Sozialgestalt der Kirche in Gemeinde und Diakonie ist jedoch noch weit davon entfernt, ein Inklusionsmotor zu sein. In ihr dominieren soziale Milieus, die meist weder Arme noch Menschen mit Behinderungen umfassen und sich durch die Art der – auch religiösen – Kommunikation vielfach abgrenzen“ (S. 55).

Ausgangspunkt der Denkschrift – wie auch des gesellschaftlichen Diskurses – ist die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Daher hat sie einen deutlichen Schwerpunkt bei der Ermöglichung von Inklusion für behinderte Menschen. In der Denkschrift wird aber auch thematisiert, dass Inklusion darüber hinausgehen muss:

„Dabei ist die Aufgabe der Inklusion von Menschen mit Behinderungen nur eine der Herausforderungen auf dem Weg zu einer diakonischen Kirche – sie unterscheidet sich nicht kategorial von der Herausforderung, von Armut bedrohte Familien, pflegende Angehörige oder Menschen mit Migrationshintergrund als »normale Gemeindeglieder« zu begreifen. Insofern geht es auch nicht in erster Linie darum, weitere Stellen oder Beauftragte zu schaffen oder zusätzliche Programme aufzulegen […]“ (S. 157).

Völlig richtig.

Allerdings würde ich an dieser Stelle gar nicht so sehr die Idee einer „diakonischen Kirche“ betonen. Denn dann könnte Inklusion schnell wieder als diakonisches Dings missverstanden werden. Und das ist es gerade nicht!

Ich spitze es einmal für die Kirchengemeinden zu: Immer, wenn es um „Inklusion“ geht, sollten die Synapsen sofort eine Verbindung zu Gemeindeentwicklung herstellen. Denn wenn man bei dem Thema als erstes (oder auch noch als zweites oder drittes) an Gemeindediakonie denkt, kann das mit der Inklusion nichts werden, dann läuft sie in die falsche Richtung. (Dabei kann natürlich durchaus etwas Gutes herauskommen, aber es hat dann eben wenig mit Inklusion zu tun).

Eine Erklärung liefert die Denkschrift im Grunde selbst:

In der Kirche sammeln sich zwar viele Menschen, die sich für andere einsetzen. Allerdings gelingt es ihnen oft nicht, eine tragfähige Brücke zu Menschen mit Einschränkungen zu schlagen. Paradoxerweise kann gerade diese Haltung eines Engagements »für andere« Kommunikation auf Augenhöhe verhindern. Geschwisterlichkeit gelingt, wo aus dem Engagement »für andere« eine »Kirche mit anderen« wird“ (S. 56).

Gemeinden müssen – um es einmal etwas belehrend zu formulieren – grundsätzlich so inklusiv wie möglich sein, egal, ob sie sich als hochkirchlich oder sozialengagiert verstehen, bildungs- oder kleinbürgerlich orientiert sind, missionarisch oder „diakonisch“ ticken.

Deshalb würde ich das Mantra, dass man von einer Kirche „mit anderen“ zu einer Kirche „für andere“ kommen muss, auch nicht überstrapazieren. Denn bei beiden Formulierungen gibt es eben (immer noch) „die anderen“.

Interessant fand ich eine Idee, von der ich bislang noch nie etwas gehört habe: Dunkelgottesdienste (S. 162-163): Ein Gottesdienst wird in einer völlig abgedunkelten Kirche gefeiert. Ich kann mir vorstellen, dass dies eine kraftvolle spirituelle Erfahrung sein kann – jedenfalls dann, wenn tatsächlich das spirtuelle Erleben im Vordergrund steht und es nicht eine pädagogische Aktion ist, ein versteckter Appell, sich mit „Behinderung“ auseinenderzusetzen.

Denn dann kann Inklusion nicht nur ein Programm zur Barrierefreiheit werden, sondern ein Innovationsmotor der Gemeindepraxis sein. Und damit hat sich die Energierichtung umgekehrt: Kirche macht nicht etwas, um Inklusion zu ermöglichen, sondern die Inklusion trägt dazu bei, Kirche zu ermöglichen.

Okay, das war jetzt doch etwas pathetisch.

tl;dr
Solide, unaufgeregt und lesenswert: die EKD-Orientierungshilfe zur Inklusion.

Musikalische Gemeinwesenarbeit

Im forum erwachsenenbildung (Ausgabe 4/2014) bin ich auf einen anregenden Artikel von Julia Koll gestoßen über die „Perspektiven kirchenmusikalischer Erwachsenenbildung“. Was das mit dem Thema dieses Blogs zu tun hat? Einiges. Aber ich muss einen absatzlang ausholen.

Gegenwärtig scheint es in der Kirchenmusik einen gewissen Turn zu geben, „Musik nicht nur als musikalischen Text zu verstehen, sondern vor allem als Musizieren“ (S. 29). Und das gemeinsame Musizieren lässt sich natürlich auch als Bildungsgeschehen verstehen – in kultureller, kognitiver, emotionaler, körperlicher, kommunaler, sozialer, religiöser und kirchlicher Hinsicht. Eine Gefahr kirchenmusikalischer Praxis besteht allerdings darin, Bildungsschranken eher zu verstärken als abzubauen. Denn auch wenn es anders gewollt ist – de facto begünstigen kirchliche Angebote oft Exklusionsmechanismen. Und so stellt Julia Koll am Ende ihre Artikels eine interessante Frage:

Noch viel stärker als bisher könnten allerdings auch produktive Verbindungspunkte zwischen Erwachsenenbildung und musikalischer Gemeinwesenarbeit geschaffen werden – von beiden Seiten aus. Wer spricht gegenwärtig schon von kirchenmusikalischen Potenzialen für die kirchliche Weiterbildungs-, Sozial- und Diakoniearbeit? Bekäme der Bildungsauftrag der Kirchen dadurch nicht einen ganz neuen Klang, einen lebendigeren und gerechteren? (S. 33)

Welches Potenzial hat die Kirchenmusik das Kirchenmusikmachen für die Diakonie? Und wie könnte eine Verbindung von Musikmachen und Gemeinwesenarbeit aussehen? Je nach Blickwinkel kommen mir sehr unterschiedliche Projekte in den Sinn. Diese sind noch keine Antworten auf die genannten Fragen, ab vielleicht sind es erste Anregungen…

Beginne ich meine Suche bei den Kirchengemeinden, fällt mir auf, dass es Gemeinden mit musikalischem Schwerpunkt gibt, die fast schon richtige Musikschulen betreiben. Gute Sache. Ihren Bezug zum Gemeinwesen könnte sie durch eine Entwicklung zum „Jeki-Ritter“ noch deutlich stärken.

Hier können Kirchengemeinde in guter Art und Weise ihren Bildungsauftrag, gemeinwesenorientiertes Engagement, kulturelle Teilhabeförderung und die Pflege der eigenen Tradition miteinander verbinden. Und vielleicht entstehen ja auch genau in dieser Hinsicht durch die Initiative Vision Kirchenmusik der Hannoverschen Landeskirche gute Projekte.

Ganz andere Ideen kommen mir in den Sinn, wenn ich nicht von der Kirchengemeinde her denke, sondern vom Gemeinwesen selbst, vom Quartier, Stadtteil, Veedel oder Kiez. Dann geht es natürlich nicht ums Kirchenmusik-Musizieren. Sondern ums Community Singing beispielsweise. Ob das in Deutschland tatsächlich ein (kommender?) Trend ist, kann ich nicht sagen. Aber es passt durch seinen zielgruppenübergreifenden Ansatz wunderbar zur Gemweinwesenorientierung. Schöne Beispiele hier in Köln sind die Initiative Loss mer singe oder das Kneipensingen wie der Singende Holunder.

Ob das schon musikalische Gemeinwesenarbeit ist? Zumindest lohnt es sich bestimmt, in diesen Richtungen zu suchen und weiterzudenken.

Der Sozialstaat, die Sozialarbeit und der ganze Rest

Wolfgang Hinte, der alte Haudegen der Sozialraumorientierung, fasst in knapp 30 Minuten seine Idee von Sozialarbeit zusammen. Was er in diesem Video sagt, ist eben nicht nur die Quintessenz des Sozialraumansatzes, sondern auch eine Art Crashkurs in guter Sozialarbeit: Er inspiriert zu einer genuin sozialarbeiterischen Praxis, nicht zu einer (pseudo-)therapeutischen oder pädagogischen („Die Geschichte der Pädagogik ist eine Geschichte der Niederlagen“). Wäre das Video ein Text, hätte ich wohl jeden einzelnen Satz markiert.

Hier nun die Neujahrsansprache zum real existierenden Sozialstaat, guter Sozialarbeit, und dem ganzen Rest, pardon: der Sozialraumorientierung.

Teile und habe teil!

Schon seit längerer Zeit beschäftigt mich die Frage, ob in der Diakonie die Idee des Teilens nicht stärker in den Mitelpunkt gerückt werden müsste. Ich habe noch kein richtiges Packende, aber ich versuche, meine bisherigen Überlegungen niederzuschreiben.

Seit ein paar Jahren wird Sharing zum gesellschaftlichen Trend – also die gemeinsame Nutzung von Dingen und Diensten, in dem man sie miteiander teilt. Wunderbar! Wer sich einmal vor Augen führen möchte, wie weit die Shareconomy mittlerweile reicht, sollte einen Blick auf die Grafik in diesen kurzen Artikel aus dem t3n-Magazin werfen.

Und warum könnte Sharing auch ein Thema für die Diakonie sein? In der Mitte der eben erwähnte Grafik stehen „empowered people“, also genau das, was Diakonie im Grunde erreichen will. Vielleicht könnte eine (neue?) Kultur des Miteinanderteilens ja ein Beitrag sein, eine diakonische Grundaufgabe zu verwirklichen.

Miteinander zu teilen ist schließlich auch ein Kernmotiv des christlichen Glaubens. Doch Kirche und Diakonie – einmal ganz allgemein gesprochen – scheinen wenig Berührungspunkte mit dem gegenwärtigen Trend um Sharing und kollaborativen Konsum zu haben. Und umgekehrt wird eine Kultur des Teilens auch kaum von kirchlicher/diakonischer Seite vorangetrieben. (Oder irre ich mich völlig?)

Bleiben wir im Bereich der organisierten Diakonie. Teilen ist kein Thema – weder als programmatischer Begriff noch als Teil der Lebenswirklichkeit diakonischen Alltags. Ein kurzer Blick in die meistzitierten Diakonie-Texte genügt: Die EKD-Diakoniedenkschrift Herz und Mund und Tat und Leben (1998), der Diakonie-Text Charakteristika einer diakonischer Kultur (2008) und die Standortbestimmung Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel (2011) greifen das Motiv des Teilens exakt null mal auf. Das ist kein Vorwurf an diese Papiere, ich will sie einfach nur als Zeugen heranziehen, dass das Thema eben kein Thema ist. Und mir geht es ja genauso: Hier auf diakonisch.de habe ich mich in knapp 150 Blogartikeln nur ein einziges Mal mit dem Teilen beschäftigt.

Dass die Idee des Miteinanderteilens weder im diakonischen Arbeitsalltag noch in der Papier-Produktion von großer Bedeutung ist, hat sicherlich auf stark damit zu tun, dass die politische Grundausrichtung der Diakonie immer eine besondere Art des Teilens favorisiert hat: Teilen als Umverteilen. Gut zu sehen ist das zum Beispiel daran, wie das Motiv des Teilens in der EKD-Teilhabe- bzw. Armutsdenkschrift „Gerechte Teilhabe“ (2006) auftaucht, nämlich als Verweis auf das Sozialwort der Kirchen von 1997: Im Zusammenhang mit der biblischen Option für die Armen  wird an die moralische Verpflichtung der Wohlhabenden erinnert, zu teilen, also etwas vom eigenen Besitz abzugeben (Ziffer 107 im Sozialwort bzw. Ziffer 65 in der EKD-Denkschrift). Dies ist allerdings ein ganz anderes Verständnis von Teilen und hat mit Sharing im Sinne von kollaborativem Konsum nichts zu tun.

Dass die Idee des Miteinanderteilens in der Teilhabe-Denkschrift nicht vorkommt, verblüfft dann doch. Die Denkschrift stellt neben die Verteilungsgerechtigkeit – quasi dem klassischen und über Jahrzehnte auch einzig „legitimen“ Gerechtigkeitsverständnis in Kirche und Diakonie – nun ein weiteres Gerechtverständnis, nämlich das der Teilhabegerechtigkeit. Ich finde das gut und richtig. Teilhabe durch Teilen, das wäre ein schöner Gedanke gewesen. Und so könnte neben dem Teilen als solidarisches Abgeben auch das Teilen als gemeinsames Nutzen einen guten Platz finden. Das Teilen als gemeinsamer Gebrauch von Ressourcen ist ein Möglichkeit – eine, neben vielen anderen! – Teilhabe zu gestalten. Denn unter Teilhabegesichtspunkten hat das Teilen im Sinne des solidarischen Abgebens seine Schattenseiten. Immer dann, wenn es in einer von zwei häufigen, aber glücklosen Varianten daherkommt: als moralischer Apell an die, die mehr haben und als generöses Verzichten der Habenden zugunsten Bedürftiger.

Miteinanderteilen ist also eine Art Ressourcenorientierung. Dieser Begriff ist in der Diakonie natürlich nicht unbekannt, im Gegenteil. Spätestens seit der Lebensweltorientierung in der Sozialpädagogik und dem Casemanagement in der Sozialarbeit wurde der Begriff der Ressourcenorientierung zum Mainstream. Die Sache ist ja auch wirklich sehr gut, nur: Der „klassische“ Ansatz der Ressourcenorientierung besteht lediglich darin, die (neu-)entdeckten eigenen Ressourcen selbst zu nutzen – mehr nicht. Ressourcenorientierung im sozialen und therapeutischen Kontext bezeichnet den Shift vom „behandelt werden“ zum „selbst handeln können“. Und der Pfiff ist hierbei, nicht von Fremdressourcen abhängig zu werden, sondern selbst wirksam zu werden. Die Ressourcenorientierung bleibt aber in der Regel genau hier stehen. Die eigenen Ressourcen anderen zur Verfügung zu stellen und gemeinsam zu nutzen, um so selbst wieder ins Teilhabe-Rad einzusteigen, kommt oft gar nicht in den Blick. Genau hier fängt aber Teilhabe an.

Schön und gut, bis hierher. Aber vielleicht ist das auch alles zu euphemistisch. Denn Teilen kann nur der, der auch etwas zu teilen hat. Wenn die Ressourcenentdeckungsarbeit zu dem Ergebnis kommt, dass eben keine (oder unattraktive) Ressourcen vorhanden sind, dann ist es schlecht mit dem Teilen. Menschen, die wirklich nichts teilen können (und eh schon aus den üblichen Wirtschaftskreisläufen herausgefallen sind), werden auch in der Shareconomy nicht gebraucht. Und genau besehen ist das meiste, was unter Sharing firmiert, im Grunde ein Vermietungsgeschäft – es ist also gar kein Teilen im eigentlichen Sinne. Die Shareconomy übt (auf mich) eine unglaubliche Faszination aus – aber man muss auch erkennen, dass sie letztlich nichts weiter ist als Plattform-Kapitalismus.

Wenn ich von der Faszination des Teilens spreche, meine ich das Inkontaktkommen mit anderen, der gemeinsame kollaborative Gebrauch und die Ressourcenschonung – und der Chance, dass Teilen Teilhabe ermöglicht. Die Shareconomy zeigt, welche Kraft eine einfache Idee entwickeln kann. Aber sie schafft neue Probleme. [Wer sich hier vertiefen möchte, dem empfehle ich Stefan Meretz‘ Thesen zur Shareconomy]

Gerade deshalb wäre es doch eine gute Sache, wenn – wieder ganz allgemein gesprochen – in Kirche und Diakonie die Idee des Miteinanderteilens als ein christliches Essentials wiederentdeckt, gepflegt und weiterentwickelt würde.

Und nun komme ich wieder zum Anfang: Die Beobachtung, dass der Aspekt des Miteinanderteilens in der Diakonie gar nicht vorkommt, stimmt nicht ganz. Zwei programmatische Diakonie-Reflexionen heben ihn sogar deutlich hervor – allerdings sind es zwei Papiere (witziger Weise heißen beide „Bratislava-Erklärung“), die hierzulande de facto bedeutungslos sind. In der Bratislava-Erklärung der Konferenz Europäischer Kirchen wird mehrfach auf den diakonischen Wert des Miteinanderteilens hingewiesen. Und die  Bratislava Declaration on Diaconia and Social Exclusion in the Central and Eastern European Region (siehe auch hier im Blog) sieht in der Entwicklung einer Kultur des Teilens sogar eine von fünf zentralen Aufgaben der Diakonie:

“Diaconia works to: […] create a culture based on sharing, respect for diversity and participation […].“

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Der gegenwärtige Sharing-Trend ist ambivalent, aber durchaus inspirierend, den christlichen Wert des Miteinanderteilens wieder zu entdecken und stärker in den Blick zu rücken. Denn Miteinanderteilen bedeutet nicht nur Ressourcenschonung oder Mangelausgleich, sondern bietet durch die gemeinschaftliche Kollaboration gerade auch Teilhabe-Möglichkeiten.

„Jetzt also auch noch Inklusion?“

Für einen Vortrag auf der Inklusionstagung der Evangelischen Akademie Baden habe ich mich noch einmal mit der Frage kirchengemeindlicher Inklusionspraxis beschäftigt. Ich habe das als Diakoniker mit einem möglichst undiakonischen Blick gemacht. Das mag vielleicht merkwürdig formuliert sein, aber wer diesen Blogbeitrag von mir kennt, wird wissen, was ich meine. Ich habe zudem eine weites Inklusionsverständnis, ich verenge es nicht auf die Inklusion von Menschen mit Behinderungen.

Ein Thema wie „Inklusion“, mit dem sich eine Gemeinde beschäftigt, wird schnell zu einem zusätzlichen Thema für die Gemeinde: „Jetzt also auch noch Inklusion!“ Dabei geht es erst einmal darum, zu fragen: Grenzen wir mit unserer Gemeindepraxis Menschen aus – offen oder verdeckt? Erschweren wir Teilhabemöglichkeiten – bewusst oder unbewusst?

Ein Grundproblem von Inklusionsprozessen ist mir noch einmal deutlich geworden: Wenn ich an der einen Stelle Inklusion fördern will, werde ich mich zwangsläufig für Exklusionen an anderer Stelle entscheiden müssen. Oder besser auf den Punkt: Teilhabeförderung ist immer auch Teilhabebehinderung. Das, was Teilhabe für die einen erleichtert, kann für andere die Teilhabe erschweren.

Aber ich will mich nicht in Paradoxien ergehen. Im Gegenteil, ich möchte, dass die Idee einer inklusiven Gemeinde möglichst leichtfüßig und ausstrahlend daherkommt. Daher lauten meine zwei wichtigsten Leitfragen: Wie kann Inklusion möglichst pragmatisch gelingen? Was kann eine Kirchengemeinde dabei auch wirklich leisten?

Den Vortrag kann man hier nachlesen (PDF). Hier eine Kurzversion meiner sieben Impulse:

Kirchliche Inklusionspraxis ist keine Frage der Diakonik, sondern der Kybernetik

Das ist der zentrale Grundsatz für mich. Inklusion ist nicht ein Projekt einer diakonischen Gemeinde, Inklusion ist auch nicht das Hoheitsgebiet der Diakonin oder des Diakonie-Presbyters. Inklusion ist ein Leitmotiv für die Gemeindepraxis an sich – und damit ist es ein Thema der Gemeindeentwicklung und des Gemeindeaufbaus.

Nichts Zusätzliches machen, sondern Bestehendes anders machen

Auf gar keinen Fall ein zusätzliches Angebot machen! Denn de facto ist das meist ein Spezialangebot für eine bestimmte Betroffenengruppe – also exakt das Gegenteil von Inklusion. Einfaches Beispiel: Bitte kein Demenz-Café in der Gemeinde machen – sondern das Gemeinde-Café so machen, dass auch Menschen mit Demenz ohne große Schwierigkeiten daran teilnehmen können!

Inklusionspraxis braucht ein „gemeinsames Drittes“

Im Mittelpunkt der Bemühungen muss etwas Identitätsstiftendes stehen, das die Inklusionsbarrieren überbrückt. Das können gemeinsame Aufgaben, Interessen, Bedürfnissen oder Rollen sein. Nur wenn diese auch tatsächlich (und nicht bloß rhetorisch!) Identität stiften, ist Inklusion möglich. „Begegnung“ alleine reicht nicht.

Inklusionspraxis gelingt leichter, wenn sie einen attraktiven Zusatznutzen (für alle) bietet

Der Klassiker ist hier natürlich die Rampe, die nicht nur dem Rollifahrer sondern auch dem Kinderwagenschieber nützt. Das ist eine gute Denkrichtung für die gesamte Gemeindepraxis: „Wie kann die Beseitigung eines Teilhabehindernisses nicht nur für den unmittelbar Betroffenen, sondern für alle einen Nutzen haben?“ Dann kann Inklusion auch zu einem Selbstläufer werden.

Nicht bei der Haltung beginnen, sondern bei der Praxis

In erster Linie ist Inklusion eine Frage der Praxis. Das was zählt, ist, ob es gelingt, nicht, ob es gut gemeint ist. Zudem ändert Praxis die Haltung, und nicht (wie oft angenommen) umgekehrt. Indem ich eine Praxis ändere und sie einübe ändert sich nach und nach meine Haltung dazu.

Der Versuchung einer unnötigen moralischen Aufladung wiederstehen

Gute Ideen sollten nicht mit moralischen Appellen gefördert werden, denn das löst meist (und in derRegel unterschwellig) Widerstand aus. Weg mit der Moral, weg mit der Betroffenheitsheischerei. Her mit den guten Ideen, die aus sich selbst heraus lebensfähig sind.

Gute Gemeinde-Bilder suchen

Kümmere dich nicht zu sehr um die Idee von Inklusion, sondern vor allem um die Idee von Gemeinde: Was ist, kann und will Gemeinde? Der Ansatz für eine inklusive Gemeinde liegt für mich darin, ob die Gemeinde ein schönes, angemessenes und überzeugendes Bild von christlicher Gemeinschaft hat. Das kann ganz schlicht sein. Aber es muss gut sein.

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Inklusion in der Kirchengemeinde ist weder ein zusätzliches Thema noch ein diakonisches Projekt, sondern eine Grundaufgabe der Gemeindeentwicklung.

Noch zwei Hinweise: In der badischen Landeskirche läuft das Projekt „Teilhabe und Inklusion“, das die Inklusion innerhalb der eigenen kirchlichen Strukturen voranbringen will. Die rheinische Landeskirche hat die viel beachtete Orientierungshilfe „Da kann ja jeder kommmen“ veröffentlicht.

 

 

sich sorgen können

Ein Zukunftsthema in der Gesellschaft (und ganz besonders in Kirche und Diakonie) ist die Gestaltung des Alters und des Alterns. Zukunftsthema stimmt natürlich nicht: Es ist bereits ein Gegenwartsthema.

Beim Sozialpolitischen Aschermittwoch des Ruhrbistums Essen und der Evangelischen Kirche im Rheinland hat der Altersforscher Prof. Dr. Andreas Kruse einen nachlesens- bzw. nachhörenswerten Vortrag gehalten. Die rheinische Kirche hat einen Auszug aus dem Vortrag als Video veröffentlicht.

Bei den von Kruse angesprochenen „Generationentandems“ zur Steigerung der Produktivität in Unternehmen bin ich etwas skeptisch (empirische Belege hin oder her), aber das ist nur ein Detail. Wichtig ist die Grundhaltung, die Kruse auch in diesem kurzen Ausschnitt vermittelt.

Deshalb hier die beiden – für mich – wichtigsten Sätze des Videos:

Wenn du nicht mehr die Möglichkeit hast, auch als hochbetagter Mensch, dich um andere zu sorgen bzw. für andere zu sorgen, fällst du aus der Welt. (0’10-0’22).

und

Das ist essentiell: Wenn wir Teilhabe, wenn wir Psyche, Gesundheit, wenn wir Lebensqualität bis ins hohe Alter erhalten wollen, ist es schon wichtig, dass wir Menschen nicht nur in der Frage ansprechen: Sind sie integriert? Sind sie mit Anderen zusammen? Sondern dass wir sie auch und vor allem in der Frage ansprechen: „Inwiefern willst du, kannst du, möchtest du einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten?“ (1’36-2’02)

Fastenzeit

AD2014Heute am Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Fasten scheint im Trend zu liegen – begrüßenswert, finde ich.

So gibt es eine regelrechte Rennaissance des Fastens, gerade auch im evangelischen Bereich. Die Aktion „7 Wochen ohne“ begann Mitte der 1980er Jahre in Hamburg als private, aber von der evangelischen Kirche unterstützte Bewegung, die rasch populär wurde und seit nunmehr 20 Jahren vom Gemeinschaftswerk evangelischer Publizistik der EKD betreut wird. Aus dem Kreise der Hamburger Initiatoren entstand zudem der Verein „Andere Zeiten e.V.“, der später eine eigene Fastenaktion ins Leben rief: „7 Wochen anders leben“.

Die Idee ist einfach: auf scheinbar unentbehrliche Substanzen (Fleisch, Alkohol, Kaffee, Süßes…) oder eingeschliffene Gewohnheiten wird bewusst verzichtet. Die Faszination des Fastens liegt in zwei besonderen Wirkungen: Der Verzicht führt nicht ausschließlich zu einem Mangelerleben (was ja auf der Hand liegt), sondern paradoxer Weise auch zur Erfahrung von Fülle. Und der zunächst äußere Prozess des Weglassens beeinflusst innere Prozesse. Verzicht kann zur Fülle führen und Äußeres wirkt auf Inneres das sind die beiden spirituellen Dynamiken des Fastens. Das macht das Fasten aus.

Deshalb finde ich so manche Fastenaktion auch etwas sonderbar. Allen voran die EKD-Aktion „Sieben Wochen ohne“, bei der ich von Jahr zu Jahr das Gefühl habe, dass man sich immer etwas besonders Schlaues ausdenken möchte. Dieses Jahr: „Selber denken! Sieben Wochen ohne falsche Gewissheiten“. Merkwürdig finde ich es deshalb, weil es die beiden Fasten-Dynamiken genau auf den Kopf stellt: Es wird nicht etwas weggelassen oder reduziert, sondern etwas mehr (bzw. bewusster) gemacht. Zudem wird bei einem inneren Prozess angesetzt (dem Bewusstsein), nicht bei einem äußeren (dem Verhalten). Kann man machen. Aber mit Fasten hat das wenig zu tun. Wirklich pfiffig und ganz im Sinne des Fastens wäre es genau andersrum gewesen: Mal sieben Wochen nicht selbst denken! Kann man als evangelische Kirche natürlich nicht machen, schon klar. Völlig schräg wird es aber dann, wenn auf evangelisch.de alberne Banalitäten à la „Adam und Eva aßen einen Apfel!“ als „falsche Gewissheiten“ entlarvt werden. Ein Wissens-Häppchen ist etwas anders als Gewissheit.

7wochen_ohne_gwDa lob ich mir den Mut der Fastenaktion des evangelischen Zentrums für Predigtkultur: Pfarrer und Pfarrerinnen sollten in der Fatsenzeit in ihren Predigten auf eine Auswahl gängiger theologischer Begriffe verzichten – sieben Wochen ohne große Worte. Eine gute Idee gegen grassierende Logorrhoe (Wortdurchfall), auch wenn es Kritik an der Umsetzung gibt. Meine Meinung habe ich im Blog von Phillip Greifenstein kundgetan, lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Karsten Dittmann.

Mittlerweile gibt es die unterschiedlichsten Ideen und Aktionen . Eine besonders ambitionierte Verzichtsaktion ist das Auskommen mit dem Hartz-IV-Regelsatz (siehe auch hier). Eine andere Idee ist das Autofasten. Oder das Energiefasten (unter dem lustigen Titel: „Klimafasten“). Interessante Idee ist auch das Klamotten- bzw. Modefasten. Und natürlich ist das digitale Fasten nicht zu vegessen.

Zu den klassischen Motiven – Fasten als religiöse Praxis oder als gesundheitliche Maßnahme (Heilfasten) – gesellt sich also ein neues Motiv hinzu: Fasten als konsumkritisch-alternativer Lebensstil (Einfaches Leben).

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Fasten berührt die paradoxen Zusammenhänge von Mangel/Fülle und Inneres/Äußeres. Und neben religiösen oder gesundheitlichen Gründen ist auch ein „einfaches Leben auf Probe“ ein wesentliches Motiv. Gute Sache.

UPDATE 2014-03-05: Ich füge jetzt noch ein paar Blogartikel hinzu, die ich sehr zum Lesen empfehle:

UPDATE 2014-03-05, zum Zweiten: Jetzt habe ich gar nichts zu meinem Fasten gesagt. Ich faste Schokolade und Milchprodukte. Durch Zufall habe ich auf WDR2 ein Interview mit Atilla Hildmann gehört, dem Shootingstar der veganen Küche (den ich bisher gar nicht kannte, was auch daran liegt, dass ich vegane Küche bisher noch nicht kannte. Jedenfalls nicht wirklich). Ich fand seine engagierte aber gleichzeitig unverkrampfte Art so erfrischend, dass ich prompt sein Kochbuch zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Auf Fleisch und Milchprodukte gleichzeitig verzichten kann ich nicht, also probiere ich eine Variante davon aus. Man könnte auch sagen, ich mache 7 Wochen vegan mit Fleisch.

Ich bin übrigens öfter an meinen Fastenvorhaben gescheitert, als dass sie „hundertprozentig“ geklappt hätte. Trotzdem mach ich weiter.

Ich finde es auch gut, die Passionszeit besonders zu gestalten. Aber das hat für mich wie gesagt nichts mit Fasten zu tun, sondern mit der Fastenzeit als Zeitabschnitt. Ich habe mir dieses Jahr wieder Anselm Grüns „Das Kreuz“ vorgenommen (das ist ein älteres Buch von Grün aus der Reihe Münsterschwarzacher Kleinschriften. Soll heißen: Da kommen weder Engel noch Wellnesstüdelü vor). Ich habe das Buch vorher in 40 Abschnitte eingeteilt, ein paar Abschnitte bleiben außen vor, so dass es jeden Tag ca. eine dreiviertel Seite Lesepensum ist. Das geht auch gut im RE5.

Und mit diesen ergänzenden Infos nehme ich jetzt auch noch an Andrea Juchems Blogparade „Fastenzeit AD 2014“ teil.

UPDATE 2014-03-05, zum Dritten: Beim Schreiben des Blogartikels hatte ich gewisse Bauchschmerzen. Und zwar wegen des thematischen Hintergrunds dieses Blogs: Ich blogge ja hier grundsätzlich über diakonische Aspekte. Aber die werden in diesem Beitrag gar nicht reflektiert. Aus einem ganz einfachen Grund: Ich habe einfach kein Packende bekommen.

Bewusst auf etwas Verzichten kann man nur, wenn man grundsätzlich genug von dem hat, worauf man verzichten will. Ansonsten ist das kein Verzicht, sondern Mangel. Oder Not. Ich überlege, ob all die hier erwähnten Fasten-Ideen (und mein persönliches Fasten) nicht ein reines bürgerliches Mittelschichtsphänomen sind. Das macht sie weder schlechter noch besser, aber das sollte man dann zumindest nicht unerwähnt lassen.

Für mich ist dies hier eine wichtige Frage (die ich momentan wirklich nicht beantworten kann): Inwiefern korrelieren (negativ und positiv) religiöse Ideen/Formate/Übungswege mit Marginalisierungserfahrungen. Ja, natürlich korreliert das, klar. Aber wie genau? Und: was wäre demnach sinnvoll: eine kompensatorische oder eine verstärkende Strategie? Wenn das noch zu kryptisch klingt: Ich kann’s grade nicht anders formulieren. Später vielleicht mal mehr.

Diakonisches Engagement

Nachdem ich das Dossier zum ehrenamtliches Engagement zusammengestellt habe, möchte ich jetzt noch ein paar grundsätzliche Gedanken zum Thema „Engagement“ anbringen – ich beschränke mich dabei auf den diakonischen Kontext. Ein guter Ausgangspunkt ist dafür das folgende Zitat:

„Es wird in Zukunft nicht ausreichen, mehr Menschen für mehr ehrenamtliche Tätigkeiten zu gewinnen, sondern es geht um eine völlig neue Grundhaltung zum zivilgesellschaftlichen Engagement. Wir werden unsere Lebensqualität nur erhalten können, wenn wir Menschen aller Generationen, Kulturen und Milieus aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beteiligen. Wir müssen sie motivieren, Verantwortung für das Miteinander in Nachbarschaft und Wohnumfeld zu übernehmen“

So formuliert es die Imagebroschüre Miteinander anders Quartiere neu gestalten (PDF) des Evangelischen Zentrums für Quartierentwicklung, einem gemeinsamen Netzwerk der Diakonie RWL und der Evangelischen Erwachsenenbildung Nordrhein.

Ein guter Ansatz. Es geht dann in erster Linie gar nicht so sehr um die Perfektionierung von organisatorischen oder organisationalen Aspekten des Freiwilligenmanagements, sondern es geht um einen anderen Blick auf das, was wir „Engagement“ nennen. Engagement ist zuerst und vor allem ein Akt der Weltgestaltung. Engagement ist das Gestalten von Lebensverhältnissen – die eigenen und die anderer – um die Welt etwas lebenswerter zu machen.

Vor diesem Hintergrund bin ich überrascht, von welchem Engagementverständnis eine Expertengruppe des Diakonie-Bundesverbandes ausgeht, die sich mit der Weiterentwicklung des diakonischen Engagements beschäftigt hat. Soeben sind ihre „10 Thesen zur Weiterentwicklung von Freiwilligem Engagement“ veröffentlicht worden, in der die Konsequenzen aus der aktuellen Diakonie-Ehrenamtsstudie formuliert werden. Kurz gesagt sind es recht allgemeine Wohlfahtsverbands-Thesen, die den gegenwärtigen Stand der Engagementforschung wiedergeben. Das ist durchaus solide, aber da es ja um die Weiterentwicklung diakonischen Engagements gehen soll, erstaunt mich dann doch, wie „traditionell“ dort ehrenamtliches Engagement gedacht wird:

  • Freiwilliges Engagement wird in in dem Papier ausschließlich als ein Handeln für andere verstanden, für die „Nutzer“ diakonischer Dienste. Diakonisches Engagement meint also die klassische Fürsorge der Ehrenamtlichen, die denen helfen, die sich im Gesellschaftsranking weiter unten befinden.
  • Zudem bleibt freiwilliges Engagement in den „10 Thesen“ ausschließlich dem „Dienstleistungs-Paradigma“ verhaftet. Das ist zum Teil verständlich, da sich die zugrundeliegenden empirischen Erkenntnisse ja auf das Engagement in diakonischen Einrichtungen beziehen. Aber „Diakonie“ kann auch als Teil zivilgesellschaftlicher Bewegung verstanden werden. Daher sollte ein gesellschaftspolitisches Engagement zumindest Erwähnung finden. Und wie verhalten sich freie/private christliche Initiativen als eine wichtige diakonische Engagementform zur Verbands- und Einrichtungs-Diakonie? Ich bekomme den Eindruck, dass diakonisches Engagament jenseits diakonischer Organisationen nicht wirklich relevant sei.
  • Und drittens fehlt die Auseinandersetzung mit „engagementfernen“ Gruppen. In der 6. These ist lediglich zaghaft von „ferneren Zielgruppen“ die Rede. Doch für mich wäre dies ein Grundanliegen der Diakonie: das freiwillige Engagement aus der „Nische“ der bürgerlichen Mittelschicht herauszuholen. Das Potenzial dazu hätte die Diakonie durchaus – gerade auch im Unterschied zu Kirchengemeinden!

Alles in allem gewinne ich den Eindruck: In der Diakonie scheint es hauptsächlich eine Form des freiwilligen Engagements zu geben, nämlich unentgeltlich Fürsorge zu leisten. Das ist nicht schlecht (keinesfalls!), es ist aber eine Verengung von dem, was „Engagement“ bedeuten kann. Und es beschreibt halt den status quo diakonischen Engagements – nicht dessen Weiterentwicklung.

Engagement wird zu schnell als unentgeltliche Dienstleistung verstanden – und das ist leider eine konzeptionelle Sackgasse. Denn Engagement meint erst einmal schlicht und einfach den persönlichen Einsatz für etwas. Engagement ist die Art der Anstrengung, Lebensverhältnisse zu einem besseren zu kehren, die über den „normalen“beruflichen oder familiären Einsatz hinausgeht.

In meinen Augen sind vor allem zwei Aspekte wichtig:

  • Freiwilliges Engagement sollte nicht ausschließlich als unentgeltlicher Fürsorgedienst verstanden werden.
  • Freiwilliges Engagament muss viel stärker ein gesamtgesellschaftliches Phänomen werden, es geht also um die Ausdehnung auf zur Zeit noch „engagementferne“ Gruppen – damit sind diejenigen gemeint, die in einem traditionellen Verständnis nur als Engagement-Empfänger verstanden werden.

Gut gebrüllt, Löwe. Aber wie kann das gelingen? Drei Hinweise dazu:

Stichwort „Geben und Nehmen“: Rund um den Keywork-Ansatz stößt man immer wieder auf eine interessante Engagement-Kette: Ich für mich – Ich mit anderen für mich – Ich mit anderen für Andere – Andere für mich. Dieses Konzept unterschiedlicher Engagement-Phasen geht auf Sylvia Kade zurück. Die klinischen Grenzen zwischen Geben und Nehmen werden organischer. Ich halte dies für ein sehr fruchtbares Engagementverständnis.

Stichwort „engagementferne Gruppen“: Eine wichtige Gruppe für die Engagementförderung sind Menschen mit Migrationshintergrund. Mittlerweile gibt es vielfältige Ansätze, auf diese Menschen verstärkt zuzugehen und ihre Ressourcen zu nutzen – wie zum Beispiel das Konzept der Stadtteilmütter oder eigens entwickelte Fortbildungen für „Menschen aus aller Welt“, die sich gerne in ihrem Umfeld engagieren wollen, aber auf kulturelle Engagementhindernisse stoßen. Eine bislang völlig vernachlässigte Gruppe Engagierter sind Menschen mit Behinderungen. Allein das Wort „Behinderung“ scheint schon Engagement-Bedarf zu signalisieren – und eben nicht Engagement-Bereitschaft. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Projekt „selbstverständlich freiwillig“ der Diakonie Hamburg, das Menschen mit Behinderung unterstützt, selbst freiwillig tätig zu werden. Schwierig scheint es gegenwärtig vor allem zu sein, Menschen in prekären und marginalisierten Lebenssituationen für ein Engagement zu gewinnen. Wie können sie gestärkt werden, in dem sie sich selbst engagieren? Mir ist hierzu wenig bekannt.

Stichwort „Welt gestalten“: Wenn man freiwilliges Engagement in erster Linie als die Gestaltung der (eigenen und fremden) Lebensumstände versteht, kann man in der eingangs zitierte Broschüre „Miteinander anders Quartiere neu gestalten“ eine interessante Haltung entdecken. Das Evangelische Zentrum für Quartierentwicklung möchte in seinen Beratungen und Fortbildungen die Menschen ermutigen, selbst initiativ zu werden und ihre Gestaltungskraft zu entdecken. In der Imagebroschüre werden daher Impulse aus der Kunst aufgegriffen. Genannt werden Joseph Beuys mit seiner Idee der „sozialen Plastik“, die Schaffensweise von Pina Bausch und die Installation „Frühbeet der Ideen“ des Objektkünstlers Ilya Kabakov. Und warum? Wenn es darum geht, Welt zu gestalten, liegt es doch nahe, sich von Leuten inspirieren zu lassen, die in anderer Art und Weise gestalterisch tätig sind. Das wird alles nur ganz kurz angerissen, aber diese Haltung gefällt mir.

Sicherlich gibt es noch eine Menge mehr Stichworte, die man hier aufführen könnte. Aber so in diese Richtung könnte ich mir eine Weiterentwicklung diakonischen Engagements vorstellen.

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Die Weiterentwicklung des freiwilligen diakonischen Engagements ist für die Diakonie ein zentrales Thema. Das braucht viel Engagement.

Neues Dossier zum ehrenamtlichen Engagement

Das vierte diakonisch.de-Dossier ist nun online. Ich habe einmal alles zusammengestellt, was mir an Netz-Ressourcen zum diakonischen und kirchlichen ehrenamtlichen Engagement in die Hände gefallen ist (nun ja, manches musste ich auch mühsam suchen…).

Hier geht’s zum Dossier Ehrenamtliches Engagament!

Bis auf den Freiwilligensurvey, dem Flaggschiff der deutschen Engagementforschung, habe ich nur Materialien aufgenommen, die einen spezifischen diakonischen und/oder kirchlichen Bezug haben bzw. die von Kirche und/oder Diakonie herausgegeben wurden. Das soll die Debatte nicht verengen. Ich musste das Dossier einfach begrenzen, und eine spezielle Engagement-Linksammlung von Kirche/Diakonie gab es bisher noch nicht (oder?).

Für den Titel des Dossiers habe ich den klassischen Begriff „ehrenamtliches Engagement“ genommen. Im kirchlichen Bereich ist es nach wie vor der gängige Terminus (Seidelmann 2012, S. 10). Im diakonischen Kontext findet man zunehmend Formulierungen, die die „Freiwilligkeit“ in den Vordergrund stellen. Hier gibt es aber auch einen fließenden Übergang zu den Freiwilligendiensten, die ich im Dossier nicht berücksichtigt habe (das wäre noch einmal eine ganz neue Linkliste). Auch deshalb bin ich einfach beim Klassiker „Ehrenamt“ geblieben. Die Wahl des Begriffs ist also keine politische, sondern eine pragmatische.

Ich hoffe, dass der Service gefällt!

Tauschnetzwerke im Freiwilligenmanagement

Dies ist ein Beitrag zur NPO-Blogparade „Freiwilliges Engagement attraktiver machen — aber wie?!“, die von Brigitte Reiser und Hannes Jähnert gehostet wird. Ich habe mich dazu mit Brigitte Reiser vom Blog nonprofits-vernetzt unterhalten. Hier sind unsere gemeinsamen Gedanken:

Martin Horstmann (MH): Wie kann man freiwilliges Engagement attraktiver machen?

Brigitte Reise (BR): Engagement wäre für viele attraktiver, wenn man sich credits erarbeiten könnte, die man einer hilfsbedürftigen Person in einer anderen Stadt oder Gemeinde wiederum in Form von freiwilligem Engagement durch andere zukommen lassen könnte. Denn die gestiegene gesellschaftliche Mobilität führt doch dazu, dass viele Familien und Bekanntenskreise getrennt sind. Man kann aufgrund dieser räumlichen Trennung hier nicht so helfen, wie man gerne möchte.  Wenn ich aber wüsste, dass mein Engagement in einer Stadt über Umwege und indirekt auch einer hilfsbedürftigen Person in einer anderen Kommune zugute kommt, – dann wäre dies doch ein sehr attraktiver (und tröstlicher) Gedanke.

MH: Das klingt ja nach einem Tauschring-Konzept. Ich engagiere mich an einer Stelle und bekomme an anderer Stelle – vielleicht sogar für jemand anderes, ganz woanders – wiederum freiwillig erbrachte Leistungen. Eine wunderbare Idee, finde ich. So etwas gibt es übrigens schon. Ich bin einmal bei einer Recherche auf „Fureai Kippu“ gestoßen. Ein ehrenamtliches Unterstützungssystem in Japan, mit dem Schwerpunkt auf Pflege, das als Tauschring mit Zeitkonten konzipiert ist.

BR: Ja, man könnte freiwilliges Engagement tatsächlich mit der Idee von Tauschnetzwerken kombinieren.  Allerdings kämpfen viele Tauschringe mit ähnlichen Schwierigkeiten: zu klein, überaltert, zu wenig Beteiligung usw. Das liegt ganz stark an der der lokalen Begrenztheit dieser Netze. Ein interessanter Blickwechsel könnte also sein: weg vom Raum, hin zum Träger! Man müsste überlegen, wie man innerhalb von Trägern – oder Trägergemeinschaften, aber das liegt eher noch weit in der Zukunft – solche Tauschsysteme etablieren kann.

MH: Und das pfiffige an dieser Idee wäre es dann, dass man diese Idee ins Freiwilligenmanagement der beteiligten Träger einbindet. Also: Wir kombinieren das Freiwilligenmanagement mit der Tauschnetzwerk-Idee. Und entgrenzen das ehrenamtliche Tauschnetz in dreifacher Hinsicht: Erstens kann über Zeitkonten das Einspeisen und Abrufen von Engagement zeitlich auseinanderfallen, zweitens ist In- und Output nicht auf eine bestimmte Region begrenzt und drittens könnte man ja auch noch überlegen, ob dies nicht auch noch bereichsübergreifend funktionieren könnte.

BR: Sehr ambitioniert! Aber vielleicht kann es uns gelingen, für diese Perspektive mehr Aufmerksamkeit zu generieren. Das könnte eine gute Diskussion in NPOs anstoßen.

MH: Im Grunde wären hier die beiden großen Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden die geborenen Trägerorganisationen dafür: Sie verfügen über flächendeckende Strukturen in ganz Deutschland, sie haben sozusagen ein riesiges Filialnetz, sie sind groß und was Freiwilligenmanagement und Ehrenamtskoordination angeht, sind sie mittlerweile gut aufgestellt. Da ist noch Luft nach oben, sicherlich, aber da ist in den letzten Jahren wirklich eine Menge Positives passiert.

BR: Ein anderer Ansatz wäre es, wenn die Idee nicht von einem Träger übernommen und „hochgezogen“ würde – was sicherlich viele Vorteile hätte – sondern wenn es eher eine freie Bewegung ist, ein Konzept, in das sich jeder Träger und jeder Verband, einklinken kann.

MH: Genauso funktioniert es beim Fureai Kippu. Es gibt anscheinend eine „Rechnungsstelle“, aber der Rest läuft dezentral und autonom über hunderte NPOs.

BR: Ja, beide Ansätze sind möglich. Aber schauen wir doch mal auf potentielle  Schwierigkeiten. Was stünde der Idee entgegen?

MH: Ich glaube das größte Problem liegt darin, wenn der Ausgleich nicht „aufgeht“. Es gibt engagementstarke und -schwache Regionen. Das kann man ja an dem Generali-Engagamentatlas gut sehen. Und was ist, wenn zum Beispiel alle Leute ihr Engagement in Kitas reinstecken wollen, aber ehrenamtliche Leistungen im Bereich der Altenhilfe rausbekommen wollen – mal etwas platt gesagt? Vielleicht sollte man doch erst einmal nur Zeit und Raum entgrenzen, sich aber auf einen Sektor bzw. auf ein Arbeitsfeld beschränken.

BR: Und das Problem der unterschiedlichen regionalen Verteilung?

MH: Vielleicht pusht so ein Konzept ja auch die Engagementbereitschaft noch einmal in ungeahnter Weise. Denn das ist ja wirklich ein sehr großer Attraktivitäts-Faktor. Es gibt aber noch eine andere Idee: Man könnte das Ganze ja nicht als tit-for-tat-Tausch aufziehen, sondern eher als Bonussystem. So wie bahn.bonus, zum Beispiel. Das heißt, es gibt einen Bonus-Faktor, für X Stunden bekomme ich nur einen gewissen Prozentsatz davon zurück. Dann würden zumindest die Spitzen abgefedert.

BR: Das gefällt mir. Ich will ja nicht alles eins zu eins verrechnen. Engagement ist ja keine pure Ökonomie, Engagement ist ja immer auch lustbetont und durchaus auch uneigennützig. Ich muss nicht alles wieder „rauskriegen“, das würde ja auch freiwilliges Engagement destruieren. Aber es wäre eine schöne Anerkennung.

MH: Genau! Und haben wir das freiwillige Engagement jetzt attraktiver gemacht?

BR: Absolut! Wir schauen, was draus wird.

Accessibilty als Avantgarde

Die letzten Abende habe ich mich mal durch etliche Videos der re:publica#13-Vorträge geklickt (Überblick über alle verfügbaren Videos hier). Ich mag den gesellschaftspolitischen Fokus der re:publica. Technisch komme ich nicht immer ganz mit, aber das macht nichts, weil das ja nur Details sind. Das Entscheidende sind die gesellschaftlichen Debatten, die dort geführt werden. Natürlich war ich auch ein bisschen auf der Suche nach Interessantem, was für diakonische Arbeit relevant sein kann. Von etlichen Vorträgen, von denen ich mir eben solche Inspiration erhofft hatte, war ich dann aber doch arg enttäuscht (Stichworte unter anderem: Zivilkapitalismus, Welt retten und Tod/Trauer im  Netz)

Fündig geworden bin ich unter anderem bei Tomas Caspers, Mitarbeiter bei Aktion Mensch, der zur Barrierefreiheit gesprochen hat: Innovationsbeschleuniger gesucht! – Wie wär‘s mit Barrierefreiheit?

„Die Barrierefreiheit – das ist auch wieder so ein Thema, wo man immer wieder hört „ach du jeh, müssen wir das jetzt auch noch machen?“ Dabei ist, wenn man sich die Technikgeschichte anguckt, gerade das Thema Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen wirklich ein spannenendes Thema, voll mit Innovationen. Und ich möchte euch gerne heut einmal zeigen, dass dies Innovationen sind, von denen wir heute noch was haben. […] Und ich werde zeigen, dass die meisten Probleme, vor denen Entwickler mobiler Anwendungen für diese Geräte stehen, alte Hüte sind für alle, die sich schon länger mit dem Thema Barrierefreihiet oder Web-Accessibility beschäftigen. […] Und gerade diese Erkenntnisse aus dem Thema Barrierefreiehit bringen entscheidende Vorteile für Menschen mit und ohne Behinderungen […]“ (01’20-02’20)

Das erinnerte mich daran, dass wir ja der Raumfahrttechnologie so Einiges an technologischem Fortschritt im Alltagsleben zu verdanken haben, wie etwa Babynahrung, Akkuschrauber oder Flachbildschirm. Und ebenso ist es mit der Barrierefreiheit. Barrierefreiheit/Accessibility ist also kein Sonderthema für Menschen mit Behinderungen, sondern ein Innovationsmotor für Alltagstechnologie – für uns alle.

Also muss man die Barrierefreiheit als das begreifen was sie wirklich ist: kein Ballast, sondern ein Antreiber für nachhaltige Veränderungen und als echter Motor für Innovationen. […] Es geht nicht darum, auch Menschen mit Behinderungen das Recht zu geben, mitzumachen, sondern es geht darum, ihnen nicht durch falsche Entscheidungen das Recht zu nehmen, bei irgendwas mitzumachen, wo sie eigentlich schon sind. Also keine Sonderlösungen produzieren, sondern gemeinsamen Zugang, der im Idealfall für alle Nutzer gleich funktioniert und von dem im Idealfall auch alle Nutzer etwas haben. (3’10-3’55)

Klingt alles sehr einleuchtend und plausibel. Für mich war trotzdem einiges Neues dabei. Deshalb hier nun das Video zu dem lehrreichen und kurzweiligen Vortrag von Tomas Caspers:

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Accessibility/Barrierefreiheit ist die neue Raumfahrttechnik: Innovationsmotor für technische Entwicklungen und Alltagserleichterungen.

Die Beteiligungsdimension stärken

Nun geht’s weiter mit meiner These: Kirche und Diakonie sollten sich stärker als Beteiliger verstehen und sich nicht ausschließlich auf ihre Rollen als Anbieter oder Dienstleister beschränken. Im letzten Beitrag ging es um Kirchengemeinden, nun stehen die diakonischen Einrichtungen im Vordergrund. Da diese beiden Organisationen doch recht unterschiedlich sind – gerade was Teilhabe und Beteiligung betrifft – kann man beide nicht in über einen Kamm scheren.

Wenn ich betone, dass die Diakonie die Beteiligungsdimension stärken soll, heißt das natürlich nicht, dass dies bisher in der Diakonie nicht vorkäme. Es geht mir einfach darum, diesen Aspekt deutlicher in den Vordergrund zu rücken. Denn die Rolle des Dienstleistungsanbieters oder Maßnahmendurchführers ist aufgrund der öffentlichen Refinanzierung doch wesentlich dominanter als die des Beteiligungsermöglicher. Und gerade die Finanzierungsfrage führt ja auch zu dem springenden Punkt: Haben diakonischen Träger überhaupt entsprechende Handlungsmöglichkeiten?

Das lässt sich pauschal kaum beantworten, aber nicht vergessen werden sollte: Wenn die Diakonie bei der  Beteiligungsdimension zur Ideenlosigkeit neigt, wird dies über kurz oder lang zur Identitätslosigkeit führen. Im Folgenden will ich drei ganz verschiedene Ansätze anreißen, was Beteiligung in der Diakonie bedeuten kann:

Beteiligung von vorne bis hinten: Co-Design diakonischer Handlungsansätze

Im ersten Semester Sozialarbeit lernt man: Die Kunden (Klienten, Nutzer, Betroffene – oder welchen Begriff man auch immer wählen mag) sind bei der Erbringung der Dienstleistung (Unterstützung, Beratung, Zuwendung – oder worum es auch immer gehen mag) zu beteiligen. Die Produktion sozialer Dienstleistungen geht nur gemeinsam mit dem Gegenüber, deshalb spricht man auch von Ko-Produktion. Das ist leicht nachvollziehbar, denn wenn der Andere nicht mitmacht, geht’s einfach nicht. Auch wenn das banal erscheint, neben dem uno-actu-Prinzip zählt dies zu den Grundlagen profesionellen sozialen Handelns.

Wenn man Beteiligung allerdings weiter fasst und als eine grundsätzliche Frage der Kultur und der Haltung versteht, kommt man über kurz oder lang zu der Erkenntnis, dass sich Beteiligung auf den gesamten Unterstützungsprozes beziehen sollte, von vorne bis hinten, inklusive Zieldefinitionen. Statt von Ko-Produktion im oben erwähnten Sinne könnte man dann gar von Co-Design sprechen. Auf diesen Begriff bin ich im Blog von Brigitte Reiser gestoßen – und er bringt diesen ersten Beteiligungs-Ansatz wunderbar auf den Punkt: Das gesamte Unterstützungs“design“ wird ko-produziert. Anspruchsvoll und herausfordernd! Allerdings wird sich dies wohl nicht selten an den (gesetzlich) definierten Vorgaben zur Erbringung der Sozialleistungen stoßen.

Befähigen zur Beteiligung: Eine diakonische Querschnittaufgabe

Die zweite Möglichkeit, die Beteiligunsgdimension zu stärken, setzt ganz anders an. Ausgangspunkt ist, dass Beteiligung bei Lichte betrachtet sehr voraussetzungsreich ist. Es braucht (mindestens) dreierlei: eine Idee davon, dass Beteiligung etwas Sinnvolles ist, die Fähigkeit, sich beteiligen zu können und schließlich die Chance, sich auch tatsächlich konkret einbringen zu können. Andersrum gesagt: Ich beteilige mich nicht, wenn ich überhaupt nicht weiß, was (mir) das bringen soll; ich beteilige mich nicht, wenn ich das Gefühl habe, es nicht zu können; ich beteilige mich nicht, wenn es keine Gelegenheiten gibt, dies zu tun.

Bei allem drei können diakonische Einrichtungen Unterstützung leisten: die Motivation zur Beteiligung wecken, Möglichkeiten bieten, Beteiligung zu „üben“ und helfen, die eigene Beteiligungsform (oder manchmal auch -nische) zu entdecken. Dies wäre die Querschnittaufgabe in sämtlichen diakonischen Handlungsfeldern, sie ist – mehr oder weniger – unabhängig von der „eigentlichen“ Maßnahme selbst.

Die Reflexion der Beteiligungsdimension als standardisiertes Verfahren: Beteiligungs-Mainstreaming

Und schließlich möchte ich noch einen dritten Ansatz nennen, wie mit der Beteiligungsfrage aus der Sicht der Organisation konstruktiv umgegangen werden kann. Die Idee ist simpel, aber gut (wenn sie konsequent umgesetzt wird): Diakonische Träger können eine Art „Beteiligungs-Mainstreaming“ in ihrer Organisation einzuführen. Wie beim Gender-Mainstreaming könnte man bei allem, was man tut, immer die Frage stellen: Welche Konsequenzen hat dies in puncto Beteiligungsmöglichkeiten?

Okay, vielleicht nicht bei allem, was man tut, aber an den entscheidenden Stellen: Bei der Reflexion der Unternehmensstrategie, bei der Entwicklung neuer Unterstützungsmaßnahmen, in Supervision und Teambesprechung. Der Knackpunkt ist also, dass man Beteiligungsprinzipien nicht einfach im Leitbild behauptet, sondern jede einzelne Maßnahme diakonischer Einrichtungen tatsächlich daraufhin überprüft, wie sehr sie Mitgestaltung und Mitentscheidung ermöglichen – oder auch verunmöglichen.

Worum es inhaltlich beim Beteiligungs-Mainstreaming geht, hängt einerseits vom Arbeitsfeld ab und andererseits – freilich – vom eigenen Verständnis, was Beteiligung meint, wie weit sie reicht und wie ernst man sie nimmt. Entscheidend ist nur, hieraus wirklich ein standardisiertes Verfahren in der Organisation zu machen.

Drei sehr unterschiedliche Ansätze, diakonische Einrichtungen stärker als Beteiliger zu entwickeln. Vielleicht ist ja etwas dabei…

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Teilhabebefähigung, Beteiligungsmainstreaming und Co-Design – die Diakonie hat viele Möglichkeiten, die Beteiligung zu stärken

Ein gemeinsames Drittes

Umso mehr ich über diakonisches Profil nachdenke, desto wichtiger wird mir eine Sache: Das Potenzial von kirchlichen und diakonischen Einrichtungen liegt darin, sich (wesentlich deutlicher) als Beteiligungsorganisationen zu verstehen. Diakonie und Kirche sind eben nicht nur Anbieter oder Dienstleister (das bleiben sie natürlich weiterhin), sondern sie sind vor allem Beteiliger. Für Kirchengemeinden bedeutet dies dann, ihre „Angebote“ daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie Beteiligungsprozesse ermöglichen, für diakonische Einrichtungen gilt dies entsprechend für ihre „Maßnahmen“.

Wie kann das gelingen? Zunächst einige Überlegungen für Kirchengemeinden – für diakonische Einrichtungen sieht das etwas anders aus, dazu schreibe ich ein andernmal etwas.

Will man eine Kirchengemeinde im Sinne von Teilhabe oder Beteiligung diakonisch profilieren, lautet die zentrale Leitfrage eben nicht: Gibt es einen Hilfebedarf? Sondern: Gibt es eine „gemeinsames Drittes“? Das meint: Gibt es eine gemeinsame Identifikationsmöglichkeit, jenseits der üblichen Rollen, die Beteiligung überhaupt erst ermöglicht?

Wenn Gemeinden ihre diakonische Dimension stärken wollen, wird sehr schnell in den Kategorien von „Hilfe-Subjekten“ und „Hilfe-Objekten“ gedacht. Die Gemeinde als Diakonie-Subjekt sucht nach Hilfe-Objekten, denen sie ihre Hilfe zuteil werden lassen kann. Das Diakonische einer Gemeinde kann aber gerade darin liegen, die Menschen eben nicht so sehr durch das Suchraster der Hilfsbedürftigkeit zu betrachten. Kirchengemeinden sind keine Sozialagenturen oder Wohlfahrtsverteilstellen – sondern Gemeinden.

Es ist viel wert, wenn die gängigen Einteilungen in Helfende und Geholfenen, in (vermeintlich) Starke und (vermeintlich) Schwache, in Priviligierte und Benachteiligte, in „Bürgerliche“ und „Marginalisierte“ an einer Stelle nicht relevant sind. Oder sagen wir realistischer: wenn diese Einteilungen mal nicht ganz so bestimmend sind. Denn die genannten Dualismen sind wirkmächtig und lassen sich nicht so einfach überwinden. Sie werden zu einem gewissen Grad immer bestehen bleiben, selbst dann, wenn man dies nicht will. Einfaches Wegmachen funktioniert nicht, und schlicht zu behaupten, diese diese Einteilungen theologisch gar nicht bestehen, hilft auch nicht weiter (auch wenn es natürlich stimmt).

Das Gemeindeleben müsste so ausgerichtet sein, dass diese unheilvollen Unterscheidungen unrelevant werden, zumindest zu einem gewissen Grad. Wie soll das gehen? In dem man eben ein „gemeinsames Drittes“ sucht, also ein Etwas, das gemeinsame Identifikation stiften kann.

Als solches bietet sich natürlich der Wohnort an: Das gemeinsame Stadtviertel, die Nachbarschaft, das Dorf, wofür es sich gemeinsam zu engagieren gilt. Deshalb ja auch meine Vorliebe für die Gemeinwesendiakonie.

Ein ganz anderes „gemeinsames Drittes“ ist zum Beispiel Musik, und zwar in erster Linie das gemeinsame Musikmachen. Der Musikgeschmack, das Musikhören, trennt. (Nicht ohne Grund ist die Vorliebe für bestimmte Musikstile ein entscheidender Milieu-Indikator.) Gemeinsames Musizieren (ob vokal oder instrumental) ist etwas Anderes. Denn das eint.

Und ein wiederum ganz anders geartetes „gemeinsames Drittes“ wären geteilte spirituelle Bedürfnisse oder Fragen. Doch mir scheint, dass „Marginalisierte“ mit ihren religiöse Fragen kaum wahr- und ernst genommen werden. Sie werden schnell in die Schublade der Hilfsbedürftigkeit gesteckt, was bei vielen gemeindlich Engagierten oft gleichbedeutend ist mit materieller Hilfsbedürftigkeit. Und bevor die Nicht-Bürgerlichen einen Schritt in die Kirche machen können, werden sie schon von einem fürsorglich denkenden Gemeindemitglied in die Kleiderkammer im Gemeindehaus umgeleitet. Was sollten Arme denn auch sonst von der Kirche wollen? Das mag polemisch klingen, aber so ist es doch oft.

Natürlich gibt es noch etliche weitere „gemeinsame Dritte“. Das Entscheidende ist, dass sie die Möglichkeit zur Rollenidentifikation bieten, in meinen Beispielen also als Stadtteilbewohner, als Musizierende, als spirituell Interessierte – und erst darüber ergibt sich dann Beteiligung. Damit kann Teilhabe aus der karitativen Falle befreit werden.

Es lohnt sich, zunächst einmal in diese Richtung zu denken, wenn man eine Gemeinde diakonisch profilieren möchte.

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Kirchengemeinden sind keine Sozialagenturen – sondern Gemeinden. Gemeinsame Identifikation stiften ist besser als „helfen“

Jeki-Ritter

Jeki – das ist die Abkürzung für das Projekt Jedem Kind ein Instrument.

„Der Name ist Programm: Jedem Grundschulkind des Ruhrgebiets soll die Möglichkeit offen stehen, ein Musikinstrument zu erlernen, das es sich selbst ausgesucht hat. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Musizieren der Kinder – von der ersten bis zur vierten Klasse. […] Jedem Kind ein Instrument“ ist ein Angebot, die Welt der Musik zu entdecken. Es richtet sich explizit an alle Kinder: Um die Integration unterschiedlichster Gruppen zu gewährleisten, gibt es Möglichkeiten der Beitragsbefreiungen.“

Ich habe keine konkreten Erfahrung mit dem Programm, ich kenne nur die Idee. Und die finde ich genial. Unabhängig von kulturellem Hintergrund und finanziellen Mitteln sollen Kinder die Möglichkeit haben, ein Instrument zu lernen. In der Regel lernt derjenige ein Instrument, in dessen Familie bereits musiziert wird. Gerade deshalb ist es wichtig, dass möglichst alle Kinder die Chance bekommen, in Berührung mit einem Instrument zu kommen. Es geht dabei nicht nur um musikpädagogische Ziele (die anscheinend auch kritisch gesehen werden), sondern es geht gerade auch darum, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.

Was diese Idee in meinen Augen so wertvoll macht, sind die Erfahrungen, etwas selbst zu machen, etwas zu können, etwas zu gestalten. Ich erkenne dabei: Die Welt ist formbar. Ich bin Urheber. Ich äußere mich und werde gehört. Ich lerne etwas zu wollen.

Jeki ist natürlich auch mit Problemen konfrontiert. Vor allem sind es Ressourcen- und Nachhaltigkeitsprobleme, gerade dann, wenn man das Konzept über das Ruhrgebiet hinaus flächendeckend installieren will. Im aktuellen rot-grünen NRW-Koalitionsvertrag wird die Idee, Jeki auf ganz NRW auszuweiten, skeptisch beurteilt. Dort heißt es:

„Das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ soll überprüft werden. Eine Ausweitung auf ganz Nordrhein-Westfalen ist in der ursprünglichen Ausrichtung des Projektes und der aktuellen finanziellen Lage nicht leistbar. Da musikalische Früherziehung nachweislich einen positiven Einfluss auf Kinder hat, wollen wir ein Konzept für NRW entwickeln, das auf den vielfältigen Ansätzen im Land aufbaut und an dem sich Kitas, Grundschulen und freie Träger beteiligen können.“ (NRWSPD – Bündnis 90/Die Grünen NRW: Koalitionsvertrag 2012 – 2017, S. 160).

Das Jeki-Anliegen ist auch ein kirchliches Anliegen: Teilhabe ermöglichen, Kulturgut pflegen und weitergeben, Selbstwirksamkeit erfahren, in Gemeinschaft die Welt gestalten. Kirchengemeinden können von Jeki profitieren, Jeki kann von Kirchengemeinden profitieren.

Zum Beispiel könnten nordrhein-westfälische Kirchengemeinden der Landesregierung ihre Ressourcen anbieten: Räume und Leihinstrumente. Oder sie könnten (flächendeckende) Angebote für die Kinder machen, die Jeki durchlaufen haben, aber weitermachen wollen. Dort, wo es Jeki nicht gibt, können Kirchengemeinden etwas Ähnliches aufziehen. Know How ist zum Teil da, die Infrastruktur sowieso. Es gibt engagierte Leute in den Gemeinden, die nur allzu gern eine „richtige“ Aufgabe hätten. Man kann sich natürlich auch einfach von dem Jeki-Gedanken anregen lassen und etwas Ähnliches machen, neben Musik gibt es ja noch andere Möglichkeiten kultureller Teilhabe.

Diakonischer geht’s nimmer. Und die Rolle des Jeki-Ritters wäre nicht die schlechteste für eine diakonische Kirche.

Teilhabe: nehmen, geben, sein

Teilhabe ist in aller Munde. Die Verwendung des Begriffs weist im sozialen Bereich mittlerweile eine deutlich inflationäre Tendenz auf. Das hat seinen Ursprung natürlich im SGB IX, das den Teilhabe-Begriff ja im Titel trägt: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Doch in Folge dessen wird im Sozialsektor auf einmal jede Maßnahme, jede Intervention, jede Sozialleistung zu einer Teilhabeleistung, die sozialen Organisationen – allen voran die Diakonie – sind nun Teilhabe(leistungs)anbieter.

Wenn man einmal von dieser Bedeutung von „Teilhabe“ absieht, ist es ein recht abstrakter Begriff. Teilhabe erschließt sich nicht so leicht. Der Begriff drückt mehr aus als einfach nur Beteiligung bzw. Partizipation. Trotzdem wird immer von dieser Bedeutung ausgegangen, wenn der Begriff „Teilhabe“ in andere Sprachen übersetzt werden soll. Denn Teilhabe ist eines jener deutschen Wörter, das in anderen Sprachen kein eindeutiges Äquivalent hat. (Wie zum Beispiel auch der Begriff „Bildung“, der immer als „Erziehung“ übersetzt wird oder der Begriff „Sucht“, den es in anderen Sprachen nur als „Abhängigkeit“ gibt.)

Also: Teilhabe = Beteiligung. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Was ist also das „Mehr“ oder das Besondere dieses Begriffs? Ich versuche nun einen Zugang zum Teilhabe-Begriff zu bekommen, in dem ich die verschiedenen Facetten auffächere, die für Teilhabe meiner Meinung (Ahnung?) nach wesentlich sind.

Teilhabe hat für mich drei konstitutive Dimensionen, die ich mit einer kleinen „Formel“ ausdrücken will:

Teilhabe = Teilnahme + Teilgabe + Teil sein.

Die Pluszeichen drücken dabei aber keine summarische Addition aus, sonder sollen einfach die Dimensionen anzeigen, die Wesenselemente. Diese will ich kurz erläutern.

Teilhaben bedeutet zunächst einmal – schlicht und einfach – Teilnehmen. Das mag Manchem vielleicht etwas zu schlicht sein, aber nichtsdestotrotz ist es in meinen Augen eine wesentliche Facette von Teilhabe. Teilhabe besteht zu einem guten Teil aus – sozialer, kultureller, politischer, religiöser, wirtschaftlicher, … – Teilnahme. Teilnahme setzt Aktivität voraus, denn nur jeder selbst kann an etwas teilnehmen (man kann nicht „teilgenommen werden“), trotzdem kann Teilnehmen von der Sache her recht passiv sein, es hat etwas Konsumierendes. Man nimmt mehr als man gibt (was aber auch völlig in Ordnung sein kann).

Teilhaben bedeutet auch, sich einzubringen, etwas von sich zu geben, etwas beizutragen. In letzter Zeit gesellt sich immer häufiger das Kunstwort „Teilgabe“ zur „Teilhabe“ hinzu. Ich meine auch eine deutliche Tendenz dieser Verwendung im kirchlichen Bereich ausmachen zu können. Der Grundgedanke ist, dass es schließlich nicht nur ums „Haben“ geht, sondern auch ums „Geben“. Ich finde das völlig richtig, aber ich will die beiden Begriffe nicht gegenüberstellen. Teilgabe ist für mich eine Dimension von Teilhabe und nicht ein komplementäres Element zur Teilhabe.

Teilhaben vollzieht sich aber auch jenseits vom bloßen Geben und Nehmen. Teihaben bedeutet auch, Teil (von etwas) zu sein. Teilhabe ist für mich sogar ganz wesentlich Teil sein. Ich bin Teil eines kleineren oder größeren Kollektivs, besser natürlich, wenn ich Teil sein kann von vielen verschiedenen Kollektiven. Teilhaben heißt in diesem Sinne, sich zugehörig zu fühlen, eingebunden zu sein. Teil sein kann einfach dabeisein bedeuten (auch das hat seinen Wert!), es meint aber vor allem dazu zu gehören.

Teilhabeleistungen sollen daher ermöglichen, partizipieren zu können (teilnehmen), sich einbringen zu können (teilgeben) und dabeisein oder dazugehören zu können (teilsein). Damit ist noch nichts gesagt über die Frage, worauf sich Teilhabe inhaltlich bezieht (also: Teilhabe an was?), aber vielleicht ist dies zumindest ein pragmatischer Zugang, um sich den Teilhabe-Begriff zu erschließen.

Die Wahrnehmung entdiakonisieren

Die Pastoraltheologie hat eine ganze Ausgabe dem Thema Inklusion gewidmet (Pastoraltheologie, 101. Jg., H. 3, 2012). Und an einer Stelle bin ich hängen geblieben: Erst habe ich mich ein bisschen darüber geärgert, dann habe ich es verstanden – um es dann richtig gut zu finden!

Es geht um Folgendes: Ulf Liedke widmet sich der Frage, wie Menschen mit Behinderungen im Gemeindeleben vorkommen können – und zwar als Gemeindeglieder, nicht als „Behinderte“. Seine These: Es bedarf in den Kirchengemeinden einer dringenden Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen (und ich ergänze: aller Menschen, die in irgendeiner Weise als „benachteiligt“, „marginalisiert“ oder „arm“ gelten):

Mein Plädoyer für die Entdiakonisierung der Wahrnehmung behinderter Menschen bedeutet deshalb nicht, die diakonische Dimension gemeindlichen Handelns zu verabschieden. Vielmehr geht es darum, nicht in die Wahrnehmungsfalle zu tappen, bei der ‚Behinderung‘ beinahe zwangsläufig mit ‚Diakonie‘ assoziiert wird. (…) Menschen mit Behinderung (…) sind Glieder und nicht Klienten der Gemeinde. Die ungeteilte Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist keine Einbahnstraße, die nur für Hilfstransporte zugelassen wäre“ (Ulf Liedke 2012: 82).

Entdiakonisierung. Ein neues Wort. Ich habe mich erst darüber geärgert, weil Diakonie natürlich mein Anliegen ist. Ich möchte ja, dass Gemeinden diakonischer werden. Da ist so ein Wort kontraproduktiv – als wenn eine Diakonisierung etwas Schlechtes wäre. Ist sie nicht! Inhaltlich fand ich die Gedanken durchaus gut, auch die Formulierung mit der Hilfstransporte-Einbahnstraße gefiel mir. Erst beim mehrmaligen Lesen fiel mir dann das Entscheidende auf: Liedke spricht von einer Entdiakonisierung der Wahrnehmung! Augen auf beim Lesen hilft.

Entdiakonisierung der Wahrnehmung. Von der Sache her ist diese Forderung nicht neu. Genau das war es, wofür sich Ulrich Bach bereits vor dreißig Jahren vehement eingesetzt hat. Aber die Formulierung Entdiakonisierung der Wahrnehmung von Ulf Liedke wird in den nächsten Jahren in der Diakonie noch Karriere machen. Hoffen wir es!

Ulf Liedke: Menschen. Leben. Vielfalt. Inklusion als Gabe und Aufgabe für Kirchengemeinden, Pastoraltheologie 101 (2012), 71-86.

Tafelfreude

Vor kurzem erzählte mir ein Jugendreferent, dass bei der Renovierung eines gemeindlichen Jugendzentrums überlegt wurde, den Hauptraum mit einer einzigen langen Tafel auszustatten. Durchgesetzt hatte sich dann schließlich die pragmatische Lösung mit kleinen Einzeltischen. Für ein Jugendzentrum ist solch eine funktionale Betischung (gibt es dieses Wort, oder gibt es nur die klassische „Bestuhlung“?) sicherlich auch angemessen. Bemerkenswert fand ich aber, dass die Tafel-Idee wirklich in der Diskussion war.

Und dann kamen im Gespräch immer mehr Tafel-Erlebnisse auf den Tisch: Bei einer „Nacht der Kirchen“ wurde in einer Kirche vom Altar bis weit hinaus auf die Straße eine Tafel aufgebaut, bei einem Stadtteilfest stand auf der gesperrten Hauptstraße einfach eine lange Tafel, und jeder konnte kommen und etwas mitbringen (das erinnert ja ein bisschen hieran). Tafel wirkt anscheinend.

Und eben das hat mich nachhaltig beschäftigt. Was wirkt? Ich denke, es hat wohl mit den folgenden beiden Aspekten zu tun.

Zunächst: Schon allein das Bild der Tafel hat etwas Faszinierendes. Die einfache Form, das Gemeinsame und – in den meisten Fällen – das Mahl. Ich frage mich, ob die Tafel eigentlich auch ein archetypisches Urbild ist? Es spricht meines Erachtens einiges dafür (aber ich kenne mich zu wenig mit der psychoanalytischen Tradition aus). Jesus hat mit seinen Jüngern wohl nicht an einer Tafel sondern eher in einem Hock-/Sitz-Kreis das letzte Mahl gefeiert, aber Leonardo da Vincis Vorstellung der Abendmahls-Tafel hat Einzug gehalten in unsere kollektive Bilderwelt – und regt immer wieder zur Auseinandersetzung an (wie zum Beispiel diese hier).

Durch die Erzählung des Jugendreferenten ist mir noch etwas Bedeutendes klar geworden: Eine Tafel stellt quasi eine räumliche Intervention dar. Hätte sich das Jugendzentrum tatsächlich für eine Tafel als einziges Möbelstück entschieden, wäre es ein anderes Jugendzentrum. (Innen-)Architektur verändert nicht nur den physischen Raum, auch den Sozialraum.

Vor einiger Zeit war ich in einem Berliner Hotel, in dessen Frühstücksraum eine sehr lange Tafel steht (siehe hier). Wer genau hinschaut, sieht, dass es auch noch Nischen gibt, um nicht gezwungen zu sein, an der Tafel Platz zu nehmen. Für das Hotel ist dies vielleicht einfach nur ein stylisher Akzent, aber mich hatte es trotzdem beeindruckt. Wie ich schon sagte: Tafel wirkt.

Siehe auch meinen Beitrag Diakonische Tische.

arm dran

Es gibt zig Armuts-Definitionen. Kürzlich bin ich auf die folgende gestoßen:

„Arm ist, wer etwas kann und etwas tun könnte, aber nichts tun darf. Arm ist, wem das Wirkungsfeld genommen ist. Dass er weniger Geld als andere hat, ist schmerzhaft. Dass er nichts mehr gestalten kann, ist schmerzhafter“ (gitschiner15).

Das Zitat ist von Joachim Ritzkowsky, Gründer der Obdachlosenarbeit der Berliner Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion.

Co-op-er-a-tion!

Ich bin mit der Semsamstraße aufgewachsen und muss anerkennend sagen: Ich habe da eine Menge gelernt. Nicht nur den Unterschied zwischen „hier“ und „dort“ oder zwischen „oben“ und „unten“, auch der Zahlenraum von 1 bis 10 wurde eingeübt, auf die Tücken, dass man ein „M“ und ein „W“ leicht verwechseln kann, wurde hingewiesen (sehr hilfreich wenn man es käuflich erwerben will!) und die Tatsache, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn zwei Männer zusammen wohnen (?), hat sicherlich auch einen nicht zu unterschätzenden Wert für das gesellschaftliche Zusammenleben.

A propos Gesellschaft: Ein Trend ist ja gerade das Urban Gardening – und ich bin davon richtig begeistert. Ist aber ein alter Hut, denn in einem vielleicht 30 Jahre alten Sesamstraßen-Clip (der amerikanischen „Muttersendung“, der Sesame Street) kannte man das bereits. Dabei ist das gemeinsame Gärtnern nur der Aufhänger, denn eigentlich geht es um das dahinter liegende Motiv: sich einbringen und sein Umfeld gestalten – und zwar gemeinsam. Die Sesamstraße hämmert in unsere Köpfe:

cooperation – makes it happen
cooperation – working together

Also ein kleines diakonisches Education-Programm. Bitte nicht anschauen, wenn man einen Ohrwurm gerade nicht gebrauchen kann. Ich trommel und summe schon den ganzen Tag vor mich hin…

Danke an die Leute vom Prinzessinengarten für den Hinweis auf dieses Video!

Manamana.

Was ist Diakonie? (#7)

Die Diakonie greift das diesjährige Thema „aktives Altern“ des Europäischen Jahres auf und macht es zu ihrem Jahresthema. Um ganz genau zu sein heißt es: „Europäisches Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“

Das ist jetzt nicht unbedingt poetisch, und so hat der Diakonie-Bundesverband das Thema in eigene Worte gefasst und ist bei „Altern in der Mitte der Gesellschaft“ gelandet. Sprachlich auf jeden Fall ein deutlicher Fortschritt, mir erschließt sich nur nicht ganz, worauf sich die „Mitte“ bezieht.

Aber es gibt noch einen Slogan, der das Jahr begleiten wird und es inhaltlich auf den Punkt bringt: „Aus dem Leben schöpfen. Für mich und für andere“

Das ist doch mal ein richtig guter Slogan. Drei kurze Anmerkungen dazu:

Meine erste Assoziation war „aus dem Vollen schöpfen“. Steht da aber nicht, es heißt: „aus dem Leben schöpfen“. Aber natürlich schwingt „aus dem Vollen“ mit – das ist geschickt. Diakonie operiert oft in der Logik des Mangels (verständlicher Weise), so etwas wie Fülle kommt eher selten vor.

Dann das Wort „schöpfen“. Erst einmal ist das  (Ab)Schöpfen gemeint, wie man mit einem Gefäß im Brunnen Wasser schöpft. Hier wird aus dem Leben geschöpft, wohl vor allem aus den Erfahrungen des eigenen Lebens. Gleichzeitig ist Schöpfen natürlich nah am Erschaffen („Schöpfung“). Ich bediene mich nicht nur einer Ressource meines bisher gelebten Lebens und setze sie ein (das wäre ein recht technisches Verständnis), sondern ich schöpfe etwas: ich schaffe, ich erschaffe.

Und drittens klingt dieses „für mich und für andere“ recht unverkrampft. Ich höre da nicht sofort den moralischen Appell heraus. Es geht um zwei Seiten: es geht um mich und es geht um andere. In der Diakonie hat man manchmal einen Teil etwas überbetont. Beide Seiten des Engagements werden genannt. Das ist gut.

Und warum poste ich diesen Beitrag in meiner kleinen Was ist Diakonie-Reihe? Weil dieses Motto nicht nur etwas mit „aktivem Altern“ zu tun hat. Im Grunde ist das eine Umschreibung für diakonisches Tun generell, wenn auch mit einem speziellen Zugang.

Was ist Diakonie? Aus dem Leben schöpfen. Für mich und für andere.

Schön.