Archiv der Kategorie: Spiritualität

Anfassbare Alltagsspiritualität

Immer zur Adventszeit wird gerne darauf hingewiesen, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist (zum Beispiel hier oder hier), genauer gesagt der Inneren Mission, noch genauer: eine Erfindung von Johann Hinrich Wichern (und ganz genau: wahrscheinlich wurde der Adventskranz in Dänemark erfunden, einer der Wichernschen Brüder hat ihn wohl von dort importiert).

Wichern verfügte über eine gutes Maß an Genialität, was Ritualisierung und Inszenierung angeht. Und dem Adventskranz – ob er ihn nun ge- oder erfunden hat – hat er zu einer unglaublichen Wirkungsgeschichte verholfen. Was ich daran mag: Es ist etwas Handfestes und hat Alltagsrelevanz. Etwas euphemistisch könnte man sagen: Glaube zum Anfassen. Und gerade das ist nicht gering zu schätzen. Denn das, was den Protestantismus in besonderem Maße ausmacht, ist eben kaum anfassbar: Predigt und Kirchenmusik. Beides von (hoffentlich) hohem Niveau, aber eben auch von hoher Flüchtigkeit. Und daher ist ein Adventskranz nicht bloß ein Trockengesteck, sondern ein Stück greifbare Alltagsspiritualität.

Hierüber musste ich nachdenken, als ich dieses Jahr wieder die ganzen Meldungen im Netz las, dass der Adventskranz eine Erfindung der Diakonie ist. Und ich frage mich, was es noch in dieser Liga gibt. Mir ist leider kaum etwas eingefallen. Damit war ich allerdings nicht allein, denn eine (sehr) kleine Umfrage in meiner näheren Umgebung hat meine Ausbeute nicht erhöht.

Ich komme auf drei „Dinge“, die einen spirituellen Alltags-Griff haben: der Wichernsche Adventskranz (1839), die Losungsheftchen der Herrnhuter (1731) und die Perlen des Glaubens (1996) von Martin Lönnebo. Immerhin. Aber etwas mehr haptische Qualität täte dem Protestantismus sicherlich ganz gut.

P.S.: Ich lasse mich sehr gern eines Besseren belehren, falls ich da doch Einiges vergesssen haben sollte. Mir geht es um Folgendes: Etwas aus dem Bereich Alltagsspiritualität mit „Ding“-Charakter, entstanden im protestantischen Raum und mit einer gewissen Wirkungsgeschichte.

Erneuerbare Energien

Was kann Menschen trösten? Der Philosoph Wilhelm Schmid führt durch die unterschiedlichen Arten und Weisen des Trostes, in einem Radiobeitrag gestern auf NDR Kultur. Manuskript und Podcast zum Nachlesen und -hören gibt es auf der Seite des Senders (Danke, Susanne!).

Weinen und Lachen, Trostkost (was für ein schönes Wort!) und erotische Lüste, Schreiben oder Musizieren – und noch Vieles mehr bis hin zu den christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung: Schmid beschreibt die verschiedensten Arten des Trostes, nennt Beispiele, und ist gleich darauf schon beim nächsten Punkt. Zum Ende des Beitrags zieht Schmid dann das Fazit:

„Die Vielzahl der Trostmöglichkeiten zeigt: Im Grunde steht jedem Menschen in jeder Situation Trost in reichem Maße zur Verfügung. Die Frage ist nur, ob er das auch so wahrnimmt und die Anregungen Anderer dazu aufnimmt. Wenn nicht, kann Trostlosigkeit und Untröstlichkeit die Folge sein“ (S. 6).

Ein anregender Beitrag. Er ist trostvoll, weil es nicht ums Vertrösten geht. Trost hat bei Schmid nichts Infantiles, kein lappidares Es-wird-schon-wieder. Trost ist die Erfahrung, wieder in die eigene Kraft zu kommen, Trost ist Zufuhr von Energie.

„Was auch immer die Gründe im Einzelfall sein mögen, so sind es im Grunde wohl immer energetische Gründe, die das Bedürfnis nach Trost verursachen: Lebenskraft ist abhanden gekommen. Was geschehen ist, kostet Energie, und Trost bewirkt eine neuerliche Zufuhr von Energie, eine Entdeckung neuer Kraft. Wer Trost findet, gewinnt neues Vertrauen in sich und Andere, in das Leben und die Welt“ (S. 3).

Abhanden gekommene Lebenskraft – genau darum geht’s auch in der Diakonie. Das kommt vor allen Phänomenen der Marginalisierung, vor den ganzen Zuschreibungen aufgrund von Diagnostik oder Zielgruppen („für Arme“, „für Suchtkranke“, „für Behinderte“…).

Wenn man Schmids Trost-Arten zusammenzählt, kommt man auf über zwei Dutzend. Diakonie-Mitarbeitende müssten eigentlich Virtuosen des Trostes sein. Ich glaube, dass viele Mitarbeitende auch genau dies sind. Aber ich stelle mir nach der Lektüre des Manuskripts die Frage, ob man in Fortbildungen und Seminaren nicht stärker die Spur verfolgen sollte, dem nachzugehen, was einen selbst tröstet und energetisiert – und welchen Bezug dies zur eigenen Tätigkeit in der Diakonie hat. Diakonie-Mitarbeitende sollen nicht zu Trost-Professionals werden, aber zu trosterfahrenen Energetisierern. Wilhelm Schmid hat mit dem Text im Grunde schon den Ansatz für ein ganzes Curriculum geliefert…

PS: Anscheinend depubliziert der NDR nach 6 Monaten wieder. Nur so als Hinweis…

Diakonische Tische

Auf dem DWI-Kongress Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung (Frühjahr 2008) habe ich in einem Workshop folgende These von Paul-Hermann Zellfelder gehört:

„Wir benötigen mehr ‚Tischdiakonie‘ als wesentliche Ergänzung zur ‚Tresendiakonie'“ (Paul-Hermann Zellfelder, siehe auch DWI-INFO Sonderausgabe 11, Heidelberg 2009, S. 143)

Der Satz leuchtete mir sofort ein – und ist hängengeblieben. Mit „Tresendiakonie“ sind die Tafeln gemeint. Über Tafeln ist schon viel diskutiert worden, das will ich hier nicht wiederholen. Nur auf diesen einen Punkt möchte ich hinweisen, der mir erst durch Zellfelders Begriff „Tresendiakonie“ aufgegangen ist: Die Tafeln haben gar keine Tafel – sondern einen Tresen. Bei einem Tresen gibt es ein „davor“ und ein „dahinter“. Bei einer (richtigen) Tafel gibt es nur ein „drumherum“. Dies sind nicht einfach Sprachspiele, sondern diese Bilder beschreibt sehr eingängig das zugrundeliegende Hilfeverständnis. Ich will jetzt kein Tafel-Bashing betreiben, denn bei den Tafeln gibt es wirklich gute Aspekte: die Wahrnehmung unwürdiger Zustände (wie das Ausmaß der Armut), und das Potenzial, aus diesem Unterstützungsformat heraus Innovatives zu entwicklen (Tafeln können sozusagen „soziale Energie“ bündeln).

Paul-Hermann Zellfelder bringt nun die „Tischdiakonie“ als Gegenbegriff  – oder vielleicht besser: als ursprünglichen Begriff – ins Spiel und erinnert damit an die jesuanische Tradition. Richtig finde ich dabei den Hinweis, dass die „Tische“ die „Tresen“ ergänzen sollen, es geht also nicht darum, ein vermeintlich schlechtes Modell durch ein vermeintlich besseres zu ersetzen.

Wie gesagt, den Hinweis auf Tisch- und Tresen-Diakonie hatte ich bereits vor wenigen Jahren gehört, aber ich habe bisher noch nicht mitbekommen, dass tatsächlich von „diakonischen Tischen“ gesprochen wird. Auf jeden Fall ist mir im Fortbildungsprogramm 2012 der Diakonie Bayern ein Fachtag zu „diakonischen Tischen“ aufgefallen. Dort habe ich dann auch noch eine Notiz auf einen bereits durchgeführten Fachtag zu diesem Thema entdeckt, in der drei gute Reflexionsfragen genannt werden:

  • Was hat sich mit dem Projekt in der Kirchengemeinde/beim Träger verändert?
  • Was bekommen die Gäste von uns – was bekommen wir von den Gästen?
  • Was antworten wir, wenn wir gefragt werden, warum wir das tun?

Klagen!

In der Diakonie wird viel und gern geklagt. Ge- und beklagt, nicht verklagt (und bitte nicht verwechseln mit Jammern!). Klagen hat für die Diakonie aber auch aus theologischer Sicht eine ganz besondere Bedeutung: Es dient dem Öffentlichmachen und Verbalisieren von Not. Klagen ist daher ein wichtiges, gar existenzielles Mittel im Umgang mit der Not. Wirft man einen Blick in die Bibel, stellt man fest, dass ein Drittel der Psalmen Klagepsalmen sind.

Schon vor einiger Zeit bin ich die Idee des Klage-Chors gestoßen. Eine wundervolles Projekt: Menschen klagen gerne, Menschen singen gerne – warum nicht beides zur selben Zeit? Begonnen hat die Idee des Complaints Choir in Finnland, mittlerweile gibt/gab es gut zwei Dutzend Klagechöre weltweit. Hier ein Video des Birminghamer Klagechors und hier ein kurzer Werbetrailer für das Projekt in Chicago.

Das wäre doch mal ein schöne Idee für die Diakonie…! Die Complaints-Choir-Bewegung betont zwar, dass sie sich nicht als politische Protestform versteht:

„Complaints Choirs are not intended as protest choirs or an agit-prop revival. The political complaint is only representing a small margin of the wonderful world of complaints. Why should such important issues as broken underpants, boring dreams or spying neighbors be excluded? On the other hand the private, the personal, can be very political at the same time.“

Okay, das läuft jetzt etwas meinem Wunsch nach einer stärkeren Politisierung diakonischer Arbeit zuwider, aber man merkt an diesen Zeilen, mit welch feiner Ironie die Klage-Idee aufgegriffen und umgesetzt wird.

Und um wieder zum Ernst des Klagens zurückzukommen, hier noch zwei weiterführende Literaturhinweise bezüglich der theologischen Dimension des Klagens:

Klage im Alten Testament: Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, Studienbuch Diakonik, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 58-87.

Dorothee Sölle beschreibt drei Phasen des Leidens, die Mittelstellung nimmt dabei das Klagen ein. Eine gute Übersicht findet sich hier: Dorothee Sölle: Leiden, Stuttgart/Zürich 2003.

Möglichkeiten zur Gestaltung des geistlichen Lebens…

… in der stationären Altenhilfe: Hierzu gibt es im Diakonie-Text 07/2011 („Kommunikation von Qualität in der stationären Altenhilfe“) eine gute Checkliste. Diese Liste könnte auch für andere stationäre Bereich genutzt werden, sie muss dann natürlich inhaltlich angepasst werden. Insgesamt werden 12 Kategorien genannt und mit etlichen Vorschlägen konkretisiert:

„Möglichkeiten zur Gestaltung des geistlichen Lebens in der stationären Altenhilfe

  • im Kirchenjahr
  • im Wochenkalender
  • in der geistlichen Begleitung bei Übergängen von Mitarbeitenden
  • in der geistlichen Begleitung bei Übergängen von Bewohnerinnen und Bewohnern
  • durch Altenheimseelsorge
  • durch Bildungsangebote und Oasentage für Mitarbeitende
  • durch Bildungsangebote für freiwillig Mitarbeitende im Besuchsdienst
  • durch Angebote christlicher Literatur
  • durch Besuchsdienste und Sitzwachgruppen
  • durch Begleitung im Sterben und in der Trauer
  • durch Gestaltung geistlichen Lebens in der Architektur, Raumausstattung und Raumgestaltung
  • durch lebendige Erfahrung, dass ein Altenheim in Trägerschaft
    der Diakonie Bestandteil der Kirchengemeinde ist“ (S. 36-37).

Gottesdienstpreis 2011 (… und 2012 und 2013)

Die Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes verleiht seit 2009 den Gottesdienstpreis. Anliegen der Stiftung ist es, die Gottesdienst-Qualität zu steigern und zeitgemäße Gottesdienstformen zu fördern. Dieses Jahr wurde eine Tauferinnerungsfeier mit behinderten Menschen in der Bruderhaus-Diakonie (Reutlingen) ausgezeichnet, gehalten wurde der Gottesdienst von Pfarrerein Cornelia Eberle. Der Ablauf des Gottesdienstes ist als PDF auf der Internetseite der Gottesdienst-Stiftung abrufbar.

Der Gottesdienstpreis steht jedes Jahr unter einem bestimmten Thema. Auch die Schwerpunkte der nächsten Jahre sind für diakonische Einrichtungen sehr interessant. Die Ausschreibungen für die Jahre 2012 und 2013 sind bereits auf der Internetseite der Stiftung zu finden.

Gottesdienst mit Demenzkranken (2012). Die Kriterien sind

  • Theologische und ästhetische Qualität;
  • Verwendung von Leichter Sprache und unterstützender Kommunikation;
  • Elementarisierung;
  • Umgang mit Gesten, Symbolen und Zeichen;
  • Berücksichtigung der Sinnesorgane;
  • Impulse zur Aktivierung von Erinnerungen;
  • Beteiligung der Gemeinde

Ein Gottesdienstkonzept für die Region (2013). Gesucht wird ein Gottesdienstkonzept, das

  • mehrere Gemeinden oder Einrichtungen gemeinsam entwickelt haben;
  • auf einer sorgfältigen Analyse der Situation vor Ort beruht;
  • ein theologisch durchdachtes Ensemble von Gottesdiensten in der Region und im Kirchenjahr darstellt;
  • unterschiedliche Milieus und zeitliche Bedürfnisse berücksichtigt;
  • zu den vorhandenen Räumen passt;
  • mit den Grenzen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden phantasievoll und realitätsgerecht umgeht.

Was ist Diakonie? (#3)

Wieder ein kleiner Impuls zu der Frage: Was macht das Diakonische aus? Diesmal beziehe ich mich auf einen Aufsatz von Fritz Lienhard: „Armut und Diakonie im Lichte des Kreuzes“. Lienhard entfaltet Diakonie anhand drei zentraler Begriffe: Demut, Gemeinschaft, Sachlichkeit.

„Wir werden Diakonie hier nicht vorzüglich als Institution oder als konkretes Handeln verstehen, sondern als Haltung, die mit dem Umgang mit der Armut verbunden ist. Es geht um drei Kennzeichen, die ich biblisch bedenken will: angenommene Schwäche, gemeinschaftliche Dimension und Sachlichkeit“ (S. 205).

Demut. Die diakonia meint nicht Wohltätigkeit als eine Tat, sondern beschreibt eine Haltung. In Lk 22, 24-27 wird „Wohltäter sein“ gar mit „herrschen“ in Beziehung gebracht. Dem gegenüber steht die Haltung der Demut. Es geht dabei nicht um pathologische Selbsterniedrigung und schon gar nicht um einen Demutswettbewerb, es geht um den Umgang mit der eigenen Schwäche. Ziel ist das Wahrnehmen der eigenen Menschlichkeit.

„Die wahre Demut besteht […] in dem Annehmen der eigenen Gebrechlichkeit, wie sie durch das Kreuz ermöglicht wird. Sie ist Bedingung für echte Diakonie“ (S. 206).

Gemeinschaft. Als zweites grundlegendes Motiv nennt Lienhard die Gemeinschaft. Gemeint ist wiederum die damit verbundene Haltung (und keine Organisationsform):

„Gemeinschaft in der Hilfe heißt, dass der Helfende nicht alleine dasteht, und das gemeinsam geholfen werden muss. Das gilt erst recht für die Ausgrenzung, die nicht auf dem Weg der Verwaltung überwunden werden kann, sondern nur durch Einführung in eine Gemeinschaft. Aber Gemeinschaft heißt auch Gegenseitigkeit der Hilfe. Würde führt dazu, dass von dem Bedürftigen auch ein Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben erwartet wird“ (S. 207).

Sachlichkeit. Das dritte Kennzeichen zählt sicherlich nicht zu den gängigen Nennungen bei der Frage, was Diakonie ausmacht. Trotzdem ist es ein „klassisches“ Kennzeichen der Diakonie. Auch wenn die Zuwendung zu einem Menschen sicherlich sehr emotional sein kann, ist es doch in erster Linie ein sachliches Handelns. Die Begründung des Handelns liegt nicht in hoch aufgeladenen Religiosität, sondern wird schlicht durch die Not selbst geboten. In Bezug auf Jesu Rede vom Weltgericht (Mt. 25) führt Lienhard aus:

„Dem Text folgend haben die Auserwählten nicht hinsichtlich der Unglücklichen helfend gehandelt, weil sie wussten, dass Chrsitus der wahre Empfänger ihres Handelns war, sondern weil der andere Hilfe bedurfte. Es war ‚Dienst‘, ausschließlich ausgerichtet an der Not des anderen. ‚Dienen‘ ist also eine soteriologisch anspruchslose, sachliche Antwort auf die Bedürfnisse des Mitmenschen“ (S. 208).

Was ist Diakonie? Eine sachliche, gemeinschaftliche und von sich selbst absehende Haltung.

Fritz Lienhard: Armut und Diakonie im Lichte des Kreuzes, in: Eurich/Barth/Baumann/Wegner (Hg.): Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung, Stuttgart 2010, 194-209.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Ab und an muss ich meine Diakonie-Materialsammlung durchsortieren, sonst wächst sie mir über den Kopf. Und beim Aufräumen bin ich nun auf dieses Schätzchen gestoßen:

Dazu lässt sich eine ganze Menge sagen. Vor allem natürlich zum Verhältnis von Selbst- und Nächstenliebe in der Diakonie. Aber das lass‘ ich mal lieber. Stattdessen ein schönes Zitat, das in diesem Zusammenhang noch eine ganz andere Facette hervorhebt:

„Diakonie entgrenzt das Näheverständnis, in dem sie jeden zum Nächsten erklärt, dem sie nahekommt“

Das Zitat ist von Joachim Weber, der kritisch anmerkt, dass das traditionelle Diakonieverständnis „Du-zentriert“ ist (Joachim Weber: Zwischen Diakoniekritik und kritischer Diakonie, DWI-INFO Sonderausgabe 12, Heidelberg 2010, 154-167; S. 165).

Nur eins noch: Das Poster ist aus dem Jahr 1998, dem Diakonie-Jubiläumsjahr. Ich weiß noch, dass ich vor einigen Jahren nachgeforscht habe, woher es eigentlich stammt. Das DW Westfalen und das DW-EKD haben mir beide versichert, dass es nicht aus ihrem Hause kommt.

Was ist Diakonie? (#1)

Diakonie ist nicht einfach „helfen“ (wenngleich Diakonie natürlich eine Menge mit Helfen zu tun hat), Diakonie ist nicht einfach „Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft“ (wenngleich sich Diakonie natürlich sehr häufig in dieser Form manifestiert). Aber was ist denn nun Diakonie? Ich beginne hiermit eine Serie an Beiträgen, in denen diese Frage immer wieder gestellt und immer wieder neu beantwortet wird.

Wenn man Diakonie mit theologischen Größen „zu packen kriegen“ will, werden meist Nächstenliebe und Dienst (bzw. Dienen) als erstes genannt. Beides ist nicht falsch – Diakonie ist Dienst am Nächsten – aber erklärt das wirklich etwas? Es braucht meines Erachtens andere theologische Begriffe, um zu beschreiben, was Diakonie meint. Begriffe, die sowohl eingängiger als auch sperriger sind als Nächstenliebe. Begriffe, die besser zum tieferen Kern des Diakoniegeschehens vordringen können.

Hier ein Vorschlag: Diakonie ist Versöhnung, Verwandlung, Bevollmächtigung. Alle drei Begriffe sind Prozess-Begriffe. Und das passt, denn Diakonie ist viel mehr ein Geschehen als ein Ergebnis oder eine konkrete Tat. Diakonie ist die Art von Geschehen, in dem Versöhnung geschieht, in dem sich Wandel vollzieht, in dem Menschen bevollmächtig werden.

Verwandlung, Versöhnung, Bevollmächtigung – dies ist der Untertitel einer aktuellen Diakonie-Publikation des Lutherischen Weltbundes (LWB). Und diese drei Begriffe beschreiben eben genau das, was Diakonie meint:

„Als integraler Teil der Mission der Kirche sind diese drei Dimensionen folglich auch Schlüsselbegriffe für die Diakonie: sie sind grundlegende Wegweiser für die diakonische Arbeit. Gleichzeitig sind Verwandlung, Versöhnung und Bevollmächtigung Indikatoren dafür, wie die Arbeit geleistet wird und an welchen Werten sie sich orientiert (…) Wir müssen alle verwandelt, versöhnt und bevollmächtigt werden. Aus diesem Grund benötigen wir alle Diakonie; zuerst Gottes Diakonie, wie sie in Jesus Christus offenbart wurde, und dann auch Diakonie im Sinne der gegenseitigen Fürsorge und Weggemeinschaft“ (S. 43; S. 44).

Die Reflexionen zu diesen drei theologischen Größen sind lesenswert, genau wie die ganze Publikation. „Diakonie im Kontext – Verwandlung, Versöhnung, Bevollmächtigung“ ist der komplette Titel. Er spielt auf eine einige Jahre zuvor erschienene LWB-Publikation an: Mission im Kontext (2005), mit eben demselben Untertitel. Der Text hat mich aufgrund seines grundlegenden Charakters immer wieder an die Diakonie-Denkschrift Herz und Mund und Tat und Leben (1998) der EKD erinnert. Allerdings wurde mir durch diese Lektüre deutlich, an welchen Stellen die Denkschrift begrenzt ist. Denn dort wird Diakonie in erster Linie als organisierte Diakonie verstanden und über die verschiedenen Arbeitsfelder beschrieben. Das LWB-Papier geht von den ökumenischen Kontexten aus (dadurch ist nicht alles auf die deutsche Situation übertragbar) und versucht wesentlich stärker mit theologischen Reflexionen die diakonische Identität zu beschreiben.

Was ist Diakonie? Diakonie ist ein versöhnendes, verwandelndes und bevollmächtigendes Geschehen.

Frohe Weihnachten!

Auf den Seite des LWB ist der Text leider nicht zu finden. Er kann für 4€ bestellt werden beim Deutschen Nationalkomitee des LWB.

UPDATE 2015-02-13: Die Publikation ist mittlerweile als PDF frei erhältlich. (Danke, Thomas!)

UPDATE 2011-12-18: Ich sehe jetzt (erst), dass es die Publiaktion als PDF gibt (auf englisch)!

Diakoniekirchen in Deutschland

Neben den vielen diakonischen Gemeinden – Kirchengemeinden, die sich eine diakonische Grundausrichtung geben – gibt es mittlerweile einzelne Kirchen(gebäude), die als Diakoniekirchen profiliert werden. Dies ist natürlich oft eng an die Gemeinden gebunden, aber die Idee der Diakoniekirchen setzt in erster Linien bei den Gebäuden an. Diakoniekirchen erfüllen meist folgende vier Kriterien:

  • Bezeichnung: es wird explizit die Bezeichnung „Diakoniekirche“ gewählt,
  • Kirchengebäude: Diakoniekirchen weisen ein besonderes Architekturkonzept auf,
  • Angebote: diakonische Angebote werden unmittelbar in die Kirche integriert,
  • Bezug zu diakonischen Trägern: Diakonische Werke oder Einrichtungen des Ortes nutzen die Kirche für Gottesdienste und Veranstaltungen (z.B. Einführungsgottesdienste für neue Mitarbeiter).

Hier einmal eine Liste aller mir bekannten Diakoniekirchen (in alphabetischer Reihenfolge):

Düsseldorf: Diakoniekirche Bergerkirche. Mehr Hintergründe hier (update 2011-11-24)

Frankfurt: Weißfrauen Diakoniekirche Frankfurt

Heidelberg: Evangelische Kappelengemeinde – Diakoniekirche

Mannheim: DiakoniePunkt Luther. Mehr Hintergründe hier, hier und hier.

Offenbach: Diakoniekirche Schlosskirche Offenbach

Wuppertal: Diakoniekirche Wuppertal. Mehr Hintergründe hier.

Ich freue mich über Hinweise auf weitere Diakoniekirchen!

Drei Herausforderungen

Im letzen Frühjahr veranstaltete die Evangelische Akademie Loccum eine Tagung zur „Diakonie zwischen Anspruch und Systemzwängen“. Soeben ist die Dokumentation erschienen. Die verschiedenen Vorträge fragten in unterschiedlichen Facetten nach dem „diakonischen Mehrwert“ (diese Formulierung scheint den leidlichen Begriff des „diakonischen Profils“ abzulösen – dem gehe ich demnächst noch etwas genauer nach). Eine konkrete Beschreibung dieses Mehrwerts konnte ich dann aber nicht finden. Dies deckt sich anscheinend mit den Eindrücken der Tagungsteilnehmer: „Aber an dem Punkt, was der Markenkern sein könnte, was die Wertorientierung, das Alleinstellungsmerkmal für die Diakonie ist, sind wir nicht wirklich zu Ergebnissen gekommen“ (Ingo Dreyer/Johannes Goldenstein, S. 112).

Diese Aussage ist insofern erfreulich, da sie ehrlich ist. Die bloße Behauptung eines „diakonischen Profils“ ist intellektuell unterfordernder als das Eingeständnis, wie schwierig es ist, das „Eigentliche“ der diakonischen Einrichtungen konkret zu beschreiben und zu benennen. Und vor allem: Wenn das „diakonische Profil“ oder der „diakonische Mehrwert“ behauptet, aber nicht erlebt wird, hat dies bei den Mitarbeitenden verherrende Folgen. Dass es tatsächlich etwas „Diakonisches“ in der organisierten Diakonie gibt, wird von vielen Mitarbeitenden bereits nicht mehr geglaubt.

Was ich an den Diskussionsergebnissen in der besagten Dokumentation aber für beachtenswert halte – neben der Ehrlichkeit der Aussage – , ist die Formulierung von drei konkreten Herausforderungen. Diese sind nicht neu, aber sie bringen es genau auf den Punkt. Ich möchte jeweils einige Anregungen beisteuern.

  • Die erste Herausforderung ist die „authentische interdisziplinäre Selbstbeschreibung der christlichen Motive für diakonisches Handeln“ (S. 112).

Dies spricht mir aus dem Herzen. Gelingen kann dies eben nur interdisziplinär. Die Theologie hat hier einen wichtigen Beitrag zu leisten – aber eben auch nur einen Beitrag. Es wird zu recht darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, einen theologischen Selbstvergewisswerungsdiskurs zu führen. Dies bedeutet zweierlei: Einmal muss sich die Thelogie in der Diakonie interdisziplinär anschlussfähig machen. Dies kann natürlich am besten durch theologisch qualifizierte Sozialarbeiter und sozialwissenschaftlich qualifizierte Theologen gelingen. Zum anderen muss sich die Theologie in die Diakonie aber auch tatsächlich einbringen. Dass kann sie nur, wenn sie relevant ist. Sie muss nützlich sein.

Mir ist ein weiterer Aspekt wichtig: Ich unterscheide zwischen der Motivation zum diakonischen Handeln und den diakonischen Motiven im Handeln. Zum Ersteren wird ständig etwas gesagt und ist eigentlich schon alles gesagt worden. Belassen wir es also dabei. Interessanter finde ich Letzteres: Gibt es innerhalb des sozialarbeiterischen, pflegerischen, pädagogischen Handeln bestimmte Motive (Essentials?, Prinzipien?), die man als „diakonisch“ bezeichnen kann? Oft wird an dieser Stelle von diakonischen oder christlichen Werten gespochen, aber das trifft es nicht ganz. Einen der wenigen Versuche, solchen „diakonischen Motiven“ auf die Spur zu kommen, bietet das Handbuch „Theologie und soziale Arbeit“. Und in meiner Dissertation versuche ich mich an einer ersten Skizze solcher „diakonischen Motive“ innerhalb der sozialberuflichen Fachlichkeit. Ich werde hieran weiterarbeiten und sie später einmal zur Diskussion stellen.

  • Die zweite Herausforderung: Das Bemühen um die spirituelle Dimension in der Diakonie (S. 113).

Das klingt recht vertraut. Aber dann kommt nicht – wie so oft, zu oft – der Hinweis auf „christliche Rituale“ oder „religiöse Angebote“. Die spirituelle Dimension meint hier – schlicht und einfach, aber äußerst wesentlich – das Gottesverständnis. Am Gottesverständnis entscheidet sich das Wirklichkeitsverständnis des Menschen. Und am Wirklichkeitsverständnis entscheidet sich das Gottesbild. Kurz: Hieran entscheidet sich alles Weitere. Und die Gottesfrage/ Wirklichkeitsverständnisfrage wird (meiner Beobachtung nach) in der Diakonie viel zu selten gestellt. Fragt die Mitarbeitenden ebenso wie die Betreuten nach ihren Gottesverständnissen! Und wie diese mit sozialer Arbeit, mit Fachlichkeit, mit Helfen, mit Geholfenwerden, mit Heilung, mit Verantwortung, mit Weltgestaltung zu tun haben. Das wären wohl die besten „religiösen Angebote“, die man machen kann.

  • Die dritte Herausforderung ist die „permanente Artikulation des gesellschaftlichspolitischen Gestaltungsanspruchs“ (S. 113).

Auch das gefällt mir. Und „Gestaltungsanspruch“ besagt doch, dass die organisierte Diakonie gestalten will. Und nicht bloß „versorgen“. Oder „passgenaue Dienstleistungen“ anbieten. Oder „assistieren“. Oder?

Die drei genannten Herausforderungen mögen vielleicht recht selbstverständlich erscheinen, aber sie treffen genau ins Schwarze. Und zudem stellen sie in meinen Augen drei gute Ansätze dar, den Identitätskern freizulegen.

Make Mantra!

Ich mag Leitbilder nicht. Und das ist fast noch untertrieben. Natürlich ist mir klar, dass Leitbilder bewusst normativ sind, dass sie eben nicht die Wirklichkeit beschreiben, sondern ein andere, eine gewünschte, eine zukünftige Wirklichkeit. Aber müssen deshalb Leitbilder und mission statements immer so schrecklich… leitbildhaft sein? Man merkt, dass Leitbildschöpfung in der Regel den Apologetikabteilungen der diakonischen Unternehmen entspringt.

Das Problem bei Leitbildern in der Diakonie ist, dass sie einerseits oft lasch formuliert sind, so dass jeder zustimmen kann – und damit ist jede scharfe Spitze abgebrochen, sie sind letztlich ein stumpfes Schwert. Hejo Manderscheid hat einmal gesagt, Leitbilder kranken daran, dass sie „hoffnungslos richtig“ seien. Und andererseits wirken sie oft überzogen, ohne Kontakt zur Realität des diakonischen Alltags. Der formulierte Anspruch ist kaum erfüllbar – aber die Mitarbeiter möchten ihn meist doch irgendwie erfüllen. Denn sie trifft ja genau diese Sehnsucht des Leitbildes. Gleichzeitig wird immer wieder erlebt, dass Leitbilder als Marketinginstrument, als Identifikationsinstrument oder als Belehrungsinstrument eingesetzt werden. Ich habe mich also entschlossen, nicht viel Leitbildern zu halten und fahre recht gut damit.

Vor einiger Zeit stieß ich nun auf ein Video von Guy Kawasaki. Guy Kawasaki war bei Apple chief evangelist, so eine Mischung aus Vordenker, Sprachrohr und Kommunikator. Guy Kawasaki hält einen ca. 40-minütigen Vortrag vor jungen Unternehmensgründern und gibt sein Erfahrungswissen in geballter Form wieder: Alles worauf man achten muss, wenn man unternehmerisch tätig sein will. Er verdichtet das Ganze zu 10 einfachen Regeln und powerpointet sich recht charmant durch die 40 Minuten.

An zweiter Stelle (ab 6’20) gibt es dann einen Hinweis, der etwas mit Leitbildern zu tun hat. Auch er scheint Leitbilder nicht zu mögen. Und einem Seelenverwandten hört man natürlich gerne zu. Kawasaki unterscheidet zwischen einem Slogan für die Kunden (also nach außen gerichtet) und einem Mantra für die Mitarbeiter (also nach innen gerichtet). „Make Mantra!“ ist seine Aufforderung. Erschaffe ein Mantra.

Ein Mantra? Ich weiß wohl, was ein Mantra ist, aber dieser Begriff an dieser Stelle? Gerade weil dieses Wort für uns im christlichen Bereich so exotisch erscheint, horche ich auf. Wobei natürlich erwähnt werden muss, dass auch das Christentum Mantren kennt und betet (das Herzensgebet ist nichts anderes als ein Mantra). Und genau das ist es: Mantren werden gebetet. Das Credo des Unternehmens muss ich – als Mitarbeiter, nicht als Kunde! – beten können. Mantren müssen benennen, warum ich dort arbeite. Für die Mitarbeiter muss etwas anderes gelten als für die Kunden. Und noch eins ist wichtig: Mantren sind kurz. Guy Kawasaki empfiehlt maximal drei bis vier Wörter. Besser finde ich jedoch folgende Regel: maximal sieben Silben.

Mir fallen sofort zwei „Mantren“ aus dem Bereich der Diakonie ein. Das klassischste aller Diakonie-Mantren ist natürlich die Kurzform des Löhe-Zitats: Mein Lohn ist, dass ich [dienen] darf (6 bzw. 8 Silben). Und dies wurde ja auch tatsächlich gebetsmühlenartig von Diakonissen in der Mutterhaustradition rezitiert. Theologisch finde ich es allerdings problematisch.

Das zweite Mantra, gewiss auch nicht unproblematisch: Stark für andere (5 Silben). Mit einem etwas anderen Akzent als stark für andere wäre das Mantra der französischen Diakonie zu nennen: Une minorité pour les autres (fast schon zu lang, 9 Silben).

Im Nachkriegsdeutschland entstand das Evangelische Hilfswerk, dessen Gründer und Kopf Eugen Gerstenmaier die programmatische Formel „Wichern zwei“ ausgerufen hat. Damit war die gestaltende Liebe im Gegensatz zu Wicherns rettender Liebe gemeint. Beide Formeln könnten durchaus mantrafähig sein.

Im Moment entdecke ich in der Diakonie eine Menge hoffnungslos richtiger Leitbilder. Wäre ein Mantra nicht einmal eine gute Alternative zu einem Leitbild? Könnte man den Grund, hier zu arbeiten, sprachlich zu einem Mantra verdichten? Wie könnte es lauten?

Siehe auch meinen Beitrag Profil-Bild zu diesem Thema.