Diakonische Paradoxien

Wer sich mit professionellem sozialem Handeln beschäftigt, landet über kurz oder lang bei den Debatten um Professionstheorien und Professionalisierungsansätzen. Und dort gibt es ein Phänomen, das man „Paradoxien professionellen (sozialen) Handelns“ nennt. Klingt kompliziert, die Literatur dazu ist es in der Regel auch, aber der Grundgedanke ist einfach: Beim Handeln kommt man immer wieder an einen Punkt, wo man sich in Schwierigkeiten verfängt, die nicht nur „Probleme“ oder „Herausforderungen“ sind, sondern die letztlich unlösbar bleiben. Deshalb Paradoxien. Sie entstehen dadurch, dass zwei sich widersprechende normative Handlungsanweisungen gleichzeitig gültig sind.

Man kann solche Paradoxien nicht wegmachen, man kann sie sich nur klarmachen. Und dabei versuchen, mit ihnen klarzukommen. Wenn das gelingt, ist das viel wert. Ich finde dies ein wichtiges Thema und frage mich schon seit längerer Zeit, ob es nicht spezielle diakonische Paradoxien gibt – also Widersprüche, die gerade dadurch entstehen, dass sich das soziale Handeln in einem normativ-christlichen Kontext vollzieht.

Wichtig ist dabei noch eins: Es geht nicht darum, das Handeln komplizierter oder intellektueller zu machen (der Begriff „Paradoxie“ könnte dies suggierieren), sondern klarer. Ich habe drei solcher Paradoxien diakonischen Handelns gefunden. Hier sind sie.

„Diakonischer Imperativ“ versus „Rosinenpicken“

Klaus Dörner hat vor etlichen Jahren einen „Imperativ“ für das Handeln im sozialen Bereich vorgeschlagen: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen an Zeit, Kraft, Manpower, Aufmerksamkeit, Liebe immer beim jeweils Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt“ (Diakonie-Jahrbuch 2003, S. 156). Dörner hat selbst darauf hingewiesen, dass dies keine dauerhaft durchzuhaltende Handlungsanweisung sein kann – aber gerade in der Diakonie ist es ein guter Impuls, damit „die Letzten (die Chancenlosesten) […] nicht als irrationaler Rest, als Konzentration der Unerträglichkeit übrig bleiben“.

Das Gegenteil ist das „Rosinenpicken“: Man steckt seine Energie dahinein, wo es sich am meisten lohnt, was am erfolgsversprechendsten ist. Auf der konkreten Handlungsebene bedeutet das, dass man vor allem mit Klienten arbeitet, bei denen man weiß, dass die Arbeit gut von der Hand geht und wo am Ende auch etwas „herauskommt“. Auch wenn diakonische Arbeit ein eher ambivalentes Verhältnis zum Thema „Erfolg“ hat, ist für die Mitarbeitenden eben genau das wichtig: zu erleben, erfolgreich zu sein. Sonst entwickelt sich in der diakonischen Arbeit ein depressives Syndrom. Deshalb sind Rosinen wichtig. Auf der Organisationsebene zeigt sich diese Paradoxie bei der Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs, vor allem vor dem Hintergrund der Refinanzierung.

„Diakonisch sehen lernen“ versus „Entdiakonisierung der Wahrnehmung“

Diakonische Arbeit setzt eine gute Wahrnehmung voraus. Nicht umsonst geht es in der Ausbildung im sozialen Bereich immer wieder darum, „sehen“ zu lernen: Bedarfe, Bedürftigkeiten, Nöte, Stigmatisierungen, Diskriminierungen. Es geht also darum, sich einen „diakonischen Blick“ anzutrainieren, diakonisch sehen zu lernen.

Und genau das kann gleichzeitig ein grundlegendes Problem sein: Um so stärker Menschen als „Diakonie-Fälle“ betrachtet werden, desto stärker werden sie stigmatisiert. Ein einfaches Beispiel macht dies deutlich: In vielen engagierten Gemeinden kommen Menschen mit Marginalisierungserfahrungen ausschließlich als diakonisch Bedürftige vor. Tauchen diese Menschen in einer Gemeinde auf, wird ihnen sogleich „geholfen“ – eine größere Diskriminierung ist kaum vorstellbar. Ulf Liedke hat daher die Formulierung von der Entdiakonisierung der Wahrnehmung geprägt.

„absichtsloses Handeln“ versus „absichtsvolles Handeln“

Diakonisches Handeln ist zweckfrei. Diakonie ist „aufrichtige Uneigenützigkeit“ (Heinrich Pompey/Paul-Stefan Roß 1998). Die Versuchung der Diakonie besteht darin, neben dem Helfen noch weitere, eigene Intentionen zu verfolgen – und gerade nicht in ihrer Absichtslosigkeit (Paolo Ricca 1992). Neben der Zuwendung und Unterstützung sollte also keine weitere hidden agenda bestehen. Diakonie ist zum Beispiel nicht dazu da, eine Arena zu haben, um zu zeigen, wie wichtig Kirche ist (oder Ähnliches). Diakonie ist um derer Willen da, die sie in Anspruch nehmen. Punkt.

Und doch kommt diakonisches Handeln nicht aus, ohne selbst etwas zu wollen. Gerade wenn diakonisches Handeln als ein christliches Handeln verstanden werden will, hat es eine Absicht, die über die konkrete Aufgabe hinausgeht. Diakonie will – je nach Arbeitsfeld und Kontext – ermächtigen, heilen, befreien, versöhnen, verbinden. Ein Klient oder Kunde will vielleicht einfach nur eine gute Versorgung oder Beratung (das ist sein gutes Recht!), aber Diakonie wird dann zur Diakonie, wenn da mehr wirkt, als die bloße Leistungserbringung.

tl;dr
Wenn zwei gegensätzliche, aber gleichzeitig wirksame Handlungsanweisungen aneinander stoßen, spricht man von Paradoxien. Es gibt Handlungsparadoxien, die auf den christlich-normativen Kontext der Diakonie zurückzuführen sind.

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