Die aktuelle Ausgabe 1/2013 der Zeitschrift “Praktische Theologie” hat den Schwerpunkt “Neue Formen von Gemeinde”. Ich zähle nun nicht zu den Insidern der Gemeinde-Entwicklung, aber mir scheint es doch gegenwärtig ein gewisses Interesse daran zu geben, wie und was Gemeinde sein kann. Also ein sehr aktuelles Thema. Und – ist das nun erstaunlich oder ist es das nicht? – ein äußerst ergiebiges Thema für diakonische Entdeckungen.
Lange Zeit schien das Thema “Gemeinde” vom Tisch zu sein. Kirche organisiert sich halt in Gemeinden, aber wer innovativ sein will, der sollte sich dann doch lieber von der Gemeinde fernhalten. Innovation ist woanders. Das fordert natürlich auch eine Gegenbewegung heraus, bei der alles daran gesetzt wird, dass Gemeinde so innovativ wie möglich daherkommt. Bevorzugte Vokal ist dabei “frisch” (und weil das so altbacken klingt, nennt man es lieber “fresh”).
Das Positive an dem Schwerpunktheft der Praktischen Theologie ist in meinen Augen, dass man sich nicht von den euphemistischen, aber letztlich doch inhaltlich unbestimmten Schlagworten “alternativer” oder “fresh”er Ansätze leiten lässt. Sondern es geht um die nüchtern klingende, aber äußerst spannende Grundfrage: Wie funktioniert eigentliche (christliche) Vergemeinschaftung? Dazu werden sieben Gemeinden vorgestellt. Diese sind:
- Ev. Stadtkirche St. Petri (Dortmund)
- LUX – Junge Kirche Nürnberg
- Lukas-Gemeinde Gelsenkirchen (und Stadtteilzentrum Hassel)
- Kirche der Stille Altona (Hamburg)
- Gellertkirche Basel
- “Mitenand”-Arbeit Basel
- Ökumenisches Forum HafenCity (Hamburg)
Die Schilderungen der Gemeinde(forme)n sind anregend zu lesen und es lohnt sich, über die anschließenden systematisierenden Überlegungen von Ralph Kunz und Uta Pohl-Patalong nachzusinnen. Zwei Gedanken gingen mir dabei immer wieder durch den Kopf:
Die Frage nach der diakonischen Dimension der (neuen) Gemeindeformen
Kunz und Pohl-Patalong betonen, dass die vorgestellten Gemeinden deutliche diakonische Bezüge haben – seien sie explizit oder implizit:
“Auffallend häufig finden sich bei den vorgestellten Gemeindemodellen ein gesellschaftliches Engagement in Solidarität mit benachteiligten Menschen. Die St. Lukas-Kirche in Gelsenkirchen und die Mitenand-Arbeit in Basel leben von diesem Motiv, aber es findet sich bei allen anderen in unterschiedlicher Weise, sei es als sozialdiakonisches Arbeitsfeld ‘Haltestelle LUX’, das sozial benachteiligte Jugendliche fördert, sei es als Auseinandersetung mit gesellschaftlichen Fragen wie in der Stadtkirche Dortmund oder als Forum für die aktuellen Fragen im Stadtteil wie im Ökumenischen Forum HafenCity, sei es als konkrete diakonische Arbeit im Quartier in der Gellertkirche Basel” (Kunz/Pohl-Patalong, S. 34).
Für Kunz und Pohl-Patalong weisen diese neuen Gemeindeformen “neue Mischungen von Sozialität, Spiritualität und Solidarität” auf (S. 35). Das Mischungsverhältnis der sozialen, spirituellen und solidarischen Dimension macht dann den Charakter der Gemeinde aus. Und ich mag mich täuschen, aber mir scheint, dass sich bei den Diskursen rund um das Diakonische der Kirche im Laufe der Jahre der Klang geändert hat. Ein gewisses Pathos, das oft mit diakonischer Arbeit einherging (etwa: Diakonie als Gerechtigkeitsarbeit, die nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch noch gegen die Kirche kämpfen muss), verebbt zunehmend. Ein neues Interesse an Spiritualität, Kontemplation oder Liturgie scheint gerade nicht – wie in der diakonischen Szene oft befürchtet – die Diakonie zu verdrängen. Sie wird im Gegenteil neu entdeckt; etwas unaufgeregter, aber mit durchaus radikalem Potenzial.
Vielleicht ist das aber auch eine etwas überschießende Interpretation von mir, mag sein…
Und andersrum: Die Frage nach der Gemeinschaftsdimension in der Diakonie
Es ging mir aber noch etwas Zweites durch den Kopf. Die Frage nach angemessenen Sozialformen und die Erkenntnisse der beschriebenen Vergemeinschaftungsprozesse sind auch für die Diakonie in ihrer institutionalisierten Variante spannend.
Meine These – die ich in Vorträgen schon gelegentlich betont, aber hier im Blog noch nicht dargestellt habe (wird nachgeholt!) – ist, dass Diakonie vier Grundfunktionen hat. Und damit eine mehr als das gängige Dreier-Modell mit Dienstleistung, Interessensvertretung (oft als „Anwaltschaftlichkeit“ bezeichnet) und Solidaritätsstiftung. Die vierte Funktion ist die der Gemeinschaftsbildung. Für mich ist auch die Pflege von Sozialkapital, die Beheimatung in kleineren und größeren Kollektiven, das Bemühen ums Dazuzugehören oder das Aufbauen von Netzwerken eine Grundfunktion der Diakonie.
Dazu gehört auch das Suchen und Ausprobieren von immer wieder neuen, angemessenen Sozialformen und das Wahrnehmen und Reflektieren von Vergemeinschaftungsprozessen. Auch deshalb sind die 7 + 1 Artikel dieser PrTh-Ausgabeauch für die Diakonie interessant.
Um die Dortmunder Stadtkirche St. Petri bildet sich eine eigene Szene, in der es immer wieder zur der überraschend-irritierenden Erkenntnis kommt, dass man in St. Petri gar nicht eintreten kann – denn rechtlich ist sie eben gar keine eigenständige Gemeinde. Weil man aber gerne irgendwo eintreten möchte, gründet man halt einen Förderverein. Auch um die Hamburger Kirche der Stille gruppiert sich eine Szene. Gemeinschaft wird gesucht, aber der Begriff „Gemeinde“ wird vermieden – zu viele negative Konnotationen schwingen mit. Die Alternative lautet dann „spirituelles Zuhause“. Bei der Jugendkirche LUX geht es um Beziehungen in Teams und Kleingruppen, die zusammen ein Netzwerk bilden. Dies führt zur Nutzung des „Community“-Begriffs, der sowohl das soziale Phänomen als auch dessen theologische Deutung aufnimmt. Die gemeinwesendiakonisch ausgerichtete Lukas-Gemeinde in Gelsenkirchen orientiert sich an „gelebter Nachbarschaft“; das Verhältnis der Sozialformen „Gemeinde“ und „Gemeinwesen“ wird mit „Nachbarschaft“ auf den Punkt gebracht. Auch das Ökumenische Forum HafenCity knüpft an die Idee eines Nachbarschafts- bzw. Begegnungsortes an, gemeinschaftliche Dynamik entfaltet sich zudem durch eine Kommunität und eine Hausgemeinschaft. Die missionarisch ausgerichtet und von Willow Creek geprägte Gellertkirche in Basel besteht aus einem Geflecht von über hundert (!) verschiedenen Kleingruppen; die zwei zentralen Gottesdiensten haben für landeskirchliche Verhältnisse Großveranstaltungscharakter. Und wiederum ganz andere Sozialformen bilden sich in der vor allem von Migrant/innen getragenen Mitenand-Bewegung in Basel. Eine Arbeit, die entdeckt hat, dass inklusive Ideen unter erschwerten Bedingungen möglich werden können, wo integrative Ansätze eben nicht möglich sind. Besondere Formate sind ein babel-artiger Gottesdienst ohne gemeinsame Sprache, ein sonntäglicher Begegnungsraum und eine eigene Art von Gemeindefreizeit.
Diakonie war immer wieder dann innovativ, wenn sie das Potenzial bestimmter Community-Arten entdeckt hat und zum wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit gemacht hat: Kommunität, Verein, Anstalt, Haus(-Familie), Wohngruppe, vereinzelt auch die Genossenschaft oder die Hausgemeinschaft, neuerdings die Nachbarschaft. Unter diesem Gesichtsprunkt birgt eine Debatte um neue Gemeindeformen durchaus auch noch Einiges an Potenzial für die Diakonie.
Gemeinwensenorientierte Ansätze werden hierbei eine wichtige Rolle spielen, das liegt ja bereits auf der Hand. Das Geflecht aus Zellen, Clustern und Netzen (wie in missionarischen oder in jugendkulturellen Gemeinden) könnte gerade für das Gelingen von Teilhabeprozesse eine entscheidende Bedeutung haben (wird meines Wissens aber unter „diakonischer“ Perspektive noch nicht bedacht). Das Phänomen, dass sich sogar in eher losen Szenen Wünsche nach formaler Zugehörigkeit entwickeln, ist vor allem für diakonische Gemeinschaften interessant. Die meines Erachtens wichtigste Brutstätte diakonisch relevanter Sozialformen sind die Migrantengemeinden. Nicht aus einer falsch verstandenen naiven Romantik heraus, sondern weil sie Integrations- und Inklusionsbemühungen noch einmal gegen den Strich bürsten.
tl;dr
Neue Gemeindeformen haben deutlich diakonische Dimensionen. Und die Diakonie braucht als Gemeinschafts-Bilder den Diskurs um neue Sozialformen.