Von fetten und von mageren Jahren

Die Politikwissenschaftler Frank Walter und Johanna Klatt haben eine Studie zum Engagement von Menschen mit wenig Geld und niedrigem Bildungsgrad vorgelegt: die Entbehrlichen der Bürgergesellschaft. Zivilgesellschaft und freiwilliges Engagement sind vor allem bürgerliche Programme, für unsere Gesellschaft ist es aber von großer Bedeutung, dass und wie sich Menschen, die nicht zu dieser Schicht zählen, engagieren.

Es gibt ein Interview, in dem die beiden Autoren ihre Thesen vorstellen. Ich will hier nur auf einen Aspekt eingehen. Der kommt im Video ab 12’40, die zentrale Aussage ist:

Die nächsten fünfzehn Jahre werden Partizipationsjahre. (13’33)

In den nächsten fünfzehn Jahren wird es also zu einem Boom an bürgerschaftlichem Engagement kommen. Diakonie und Kirche werden in diesem Fahrwasser mitschwimmen und es genießen, denn sie sind in großem Maße die Profiteure. Das ist gut, und das sollen sie auch. Die meiner Meinung nach wirklich spannende Frage ist dann allerdings:

Was kommt danach?

Was kommt nach diesen fünfzehn fetten Engagement-Jahren? Ein Abflauen an ehrenamtlichen Engagement wird besonders die treffen, die sich immer mehr auf diese Ressource eingestellt haben, also gerade auch Kirche und Diakonie. Staatliche Sozialtransfers werden weiter abgebaut sein, so dass ein Wegfallen der Engagement-Ressource die Diakonie noch stärker in die Opfer-Rolle treibt: „Keiner gibt uns etwas, dabei sind wir doch so wichtig!“ Die Kirche wird versuchen, besonders ihre Homebase der mittleren und oberen Mittelschicht und des Bildungsbürgertums zu verteidigen. Gerade wenn die Engagementpotenziale in diesem Segment geringer werden, wird es anspruchsvolle Programme geben, um die entsprechenden Leute zu binden.

Unter der Voraussetzung, dass Walter und Klatt recht haben, heißt es daher: Nutzt die nächsten fünfzehn fetten Jahre für die darauf folgenden mageren Jahre! Konkret: Engagament darf in den nächsten anderthalb Jahrzehnten nicht bloß als ein Nullsummenspiel betrachtet werden, nämlich in dem Sinne, dass das ehrenamtliche Engagement einfach die zurückgehenden finanziellen Mittel ersetzt. Dann würde diese Ressource bloß verkonsumiert werden. In den kommenden fetten Jahren muss vor allem in die „Ressource Engagement“ selbst investiert werden.

Was ist damit gemeint? Hier ein paar Gedanken von mir, sicherlich noch nicht alles zu Ende gedacht…:

Gerade die von Walter und Klatt angesporchenen „Entbehrlichen“ müssen in den Fokus der Engagement-Strategien rücken: Sie stellen das eigentliche Potenzial dar – wenn sie denn in der Lage sind, sich entsprechend zu engagieren. Genau das ist die künftige Agenda von Kirche und Diakonie: sich um diese Menschen kümmern und sie befähigen, sich engagieren zu können, und sie inspirieren, sich einbringen zu wollen, gerade auch zu ihrem eigenen Nutzen. Dazu passt gut die folgende Aussage:

Und insofern fehlen gerade so die großen integrativen Klammern, die also auch diejenigen von unten mitnehmen. Weil dazu brauchen Sie eine bestimmte Weltanschauung. (15’45)

Das ist ja wohl nicht nur ein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern gleich mit dem ganzen Zaun: das geht nicht ohne eine Weltanschauung! Sich Engagieren wollen und können braucht Bilder, warum das gut und wichtig ist. Das Christentum hat diese Bilder (andere natürlich auch), bitteschön!

In meinen Augen heißt das, dass Kirchengemeinden viel stärker Menschen in das kirchliche Engagement einbinden, die in kirchlicher Logik sonst nur die Adressaten dieses Engagements sind. Und es heißt auch: Prioritäten setzen bei der Jugendarbeit, bei der Jugendarbeit und bei der Jugendarbeit. Da lernt man, sich zu engagieren. Die Erfahrungen, die man dort nicht gemacht hat, kann man nicht nachholen. Und diejenigen, die sich jetzt oder in den nächsten fünfzehn Jahren engagieren, sind allesamt Leute, die aus (kirchlicher oder nicht-kirchlicher) Jugendarbeit kommen. Kann ich jetzt gerade nicht belegen, aber ich meine, dass das stimmt.

Und die Diakonie? Was kann sie in den fetten Jahren tun, um die Engagament-Ressourcen grundlegend zu stärken? Sie muss sich selbst engagieren, nämlich für eine gesunde Zivilgesellschaft. Und dazu gehören vor allem Debatten, Diskurse und politische Partizipation. Diakonische Einrichtungen müssen zu Diskussionsrunden einladen, niederschwellige Bildungsangebote anbieten, komunalpolitisches Agenda-Setting betreiben, im Wahlkampf Stellung beziehen, mit Bürgerinitiativen kooperieren oder selbst welche (mit-)gründen, und so weiter und so weiter… Oder anders formuliert: Sie dürfen über den Customer Value ihrer Dienstleistungen nicht den Public Value ihres Auftrags vergessen. Diakonie darf eben nicht einfach nur zivilgesellschaftliche Ressourcen nutzen, sondern muss selbst in sie investieren.

Das klang jetzt ja alles sehr nach dem „Wort zum Sonntag“. Ja, irgendwie schon.

Siehe auch meine Beiträge Das Gesellschaftsbetriebssystem und Nicht können, nicht wollen, nicht gefragt sein.

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