Die sieben Diakonien

Das Wort Diakonie gibt es natürlich nicht im Plural. Aber mit dieser nicht ganz korrekten Überschrift möchte ich auf die Vielfalt der unterschiedlichen Diakonie-Formen hinweisen. Diakonie ist eben nicht gleich Diakonie. Beispielsweise sind die Gemeinsamkeiten zwischen einer diakonisch orientierten Gemeinde und einem diakonischen Unternehmen recht gering. Beides ist aber Diakonie. Natürlich kann man einen gemeinsamen Nenner formulieren, die Frage ist nur, wie hilfreich dies für Diakoniewissenschaft wie -praxis ist. Die Gefahr liegt darin, dass entweder diesem gemeinsamen Nenner Gewalt angetan wird (um ihn überhaupt formulieren zu können) oder dass die Besonderheiten und Eigenarten der unterschiedlichen Diakonie-Typen vernachlässigt werden (zu Gunsten eines allgemeingültigen Diakonieverständnisses).

Bei der Frage nach dem diakonischen Selbstverständnis hat sich die folgende kleine Diakonie-Typologie als sehr hilfreich erwiesen, mit der ich in letzter Zeit oft gearbeitet habe. Sie ist rein beschreibender Natur, folgt also keinem normativen Ansatz, und ist leicht verständlich. Diese Typologie beschreibt die Organisationsformen, nicht die Aufgaben von Diakonie. All das, was als Diakonie bezeichnet wird, kann man einem der folgenden Akteurstypen zurechnen. Sicherlich kann man dies auch noch feiner unterteilen.

Diakonische Einrichtungen. Dies ist der Diakonietyp, der die öffentliche Wahrnehmung von Diakonie am stärksten prägt. Viele reichen geschichtlich bis in die Gründerzeit der Inneren Mission zurück. Einige entwickelten sich zu „diakonischen Anstalten“, die heute meist als Komplexeinrichtungen bezeichnet werden (es gibt meines Wissens mittlerweile keine diakonische Einrichtung mehr, die in ihrem Namen noch die Bezeichnung „Anstalt“ trägt). Neben den großen Komplexeinrichtungen gibt es eine Vielzahl von diakonischen (Einzel-)Einrichtungen, in der Regel sind sie als e.V., Stiftung oder GmbH organisiert.

Diakonische Gemeinden. Im Gegensatz zum Begriff „Gemeindediakonie“ (der eher normativ ist) wähle ich an dieser Stelle die Bezeichnung „diakonische Gemeinde“. Das diakonische Grundprogramm von Kirchengemeinden ist zwar sehr gering: Fürbitte („diakonisches Gebet“), Kollekte und (Pfarrer-)Diakoniekasse. Aber es gibt eine wachsende Anzahl diakonisch orientierter Gemeinden, die in ihrer ambitionierten Arbeit von den anderen Diakonieformen manchmal unterschätzt werden.

Regionale Diakonische Werke (DWs). Sie bilden die flächendeckende diakonische Grundstruktur. Kernbestandteil sind meist Beratungsstellen. Wesentlich für diesen Diakonie-Typ ist der kommunalpolitische Bezug und die Brückenfunktion zwischen den „organisiert diakonischen“ und „verfasst kirchlichen“ Systmen. Die regionalen Diakonischen Werke unterscheiden sich von Landeskirche zu Landeskirche zum Teil deutlich.

Diakonische Social Business-Organisationen. Zugegeben, der Begriff ist nicht schön, aber ich kenne derzeit keinen besseren. Hierbei handelt es sich um Einzelorganisationen, die von der Initiative von social entrepreneurs leben, also von Menschen mit „Macher-Qualitäten“, die ein soziales Problem mit unternehmerischen Mitteln angehen wollen. Es sind durch und durch unternehmerische Projekte, aber weniger im Sinne von „durchökonomisiert“, sondern im Sinne der eigentlichen Wortbedeutung: etwas unternehmen. Social Business-Organisationen  entwickeln sich oft in zwei Richtungen: Es werden neue Standorte eröffnet und sie vergrößern ihren politischen Einfluss. Sie bleiben dabei ihrem Schwerpunkt treu, etwickeln sich also nicht zu neuen Komplexeinrichtungen. Im freikirchlichen Bereich sind Social Business-Organisationen wesentlich verbreiteter, im „Mainline-Protestantismus“ in Deutschland ist man hier sehr zurückhaltend mit dieser Diakonieform. Meines Erachtens wird dieser Diakonie-Typ aber stark zunehmen, insofern wird sich irgendwann auch die Begriffsfrage klären. Und noch eine letzte Bemerkung: Die in der Gründerzeit der Inneren Mission entstandenen Anstalten und Werke haben aus heutiger Sicht als Social Business-Organisationen begonnen.

Diakonische Fachverbände. Auch Verbände zur politischen Einflussnahme und fachlichen Weiterentwicklung können als  eigenständige Diakonieform gelten. Das Besondere an dieser Diakonie-Form ist, dass sie selbst nicht Träger von konkreten diakonischen Dienstleistungen und Angeboten sind. Aber da die strukturelle Bekämpfung von Not und die Gestaltung von Strukturen durch politische Einflussnahme eine urdiakonische Aufgabe ist, ist das, was diese Verbände machen, selbst auch Diakonie.

Kommunitäre Basisgemeinschaften sind eine nicht zu vergessene Diakonieform. Hier sind es Einzelpersonen oder Familien, die nach alternativen Lebensentwürfen und Sozialformen suchen und sich gemeinschaftlich zusammenschließen. Auch viele Evangelische Kommunitäten haben ein starkes diakonisches Engagement.

Und schließlich stellen die Werke der diakonischen Entwicklungsarbeit eine eigenständige Diakonieform dar, wie Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt, Hoffnung für Osteuropa oder Evangelischer Entwicklungsdienst.

Es gibt vielfache Überschneidungen. In manchen diakonisch engagierten Kirchengemeinden sind Beratungsstellen entstanden, die mittlerweile an die Ausmaße eines kleinen Diakonischen Werkes heranreichen. Einige Diakonische Werke entwickeln sich zu diakonischen Unternehmen und übernehmen auch deren Handlungslogik. Aus kommunitär geprägten Basisgemeinschaften entwickeln sich zum Teil Social Business-Organisationen. Und so weiter, und so weiter…

Die Unterscheidung dieser Typen und die Wertschätzung ihrer Unterschiede helfen falsche Erwartungen zu klären und Missverständnisse auszuräumen. Fragt man nach den Möglichkeiten und Grenzen dieser sieben Typen, sollten vor allem die unterschiedlichen Rollen, Motive und Handlungslogiken reflektiert werden. Anhand dieser Unterschiede werden dann auch die Schwierigkeiten zwischen den einzelnen Diakonieformen, die es zuweilen gibt, deutlich und verständlich. Das bedeutet aber auch, dass jede dieser Diakonieform ein eigenes Selbstverständnis hat. Denn es gibt eben nicht das diakonische Selbstverständnis, sondern ausschließlich kontextbezogene Diakonieverständnisse. Und diese können durchaus in Konkurrenz zu anderen Selbstverständnissen stehen.

UPDATE 2012-01-07: Ich habe in letzter Zeit an mehreren Stellen wieder mit dieser Typologie gearbeitet und merke immer mehr, dass tatsächlich eine Form fehlt – wie im Kommentar (s.u.) ja bereits angedeutet: Initiativen und Projektgruppen. Oft entstehen sie in Gemeinden (oder deren Umfeld), sind aber nicht mit diesen gleichzusetzen. Sie sind flüchtiger als die anderen Formen, aber ihre Stärke liegt darin, dass sie oft schneller und flexibler sind und vor allem monothematisch ausgerichtet sind (was sich ja auch gegenseitig bedingt). Umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, wie ich sie eigentlich vergessen konnte! Vielleicht lag es an der Siebenerzahl…

5 Kommentare zu „Die sieben Diakonien“

  1. Lieber Herr Horstmann,
    vielen Dank für die Typisierung. Sie ist eindeutiger als die, mit der ich bisher gearbeitet habe. M. E. müsste allerdings „Gemeindediakonie“ noch etwas weiter gefasst werden; es gibt etliche, die eigene Einrichtungen unterhalten – oder auch neu gründen! Ebenso sind widmen sich immer wieder Kreise und Gruppen diakonischen Aufgaben; und sie sind auch selbst diakonisch, weil ihren Mitgliedern beistehend und helfend.
    Viele Grüße
    Peter Nietzer

    1. Hallo Herr Nietzer, Danke für den Kommentar. Sie haben Recht, man kann das Ganze noch präzisieren. Den Aspekt, dass in manchen Gemeinden etwas ganz Neues entsteht, habe ich ja bereits im Beitrag angedeutet. Interessant ist Ihr Hinweis zu den „Kreisen und Gruppen“. An die habe ich natürlich gedacht, eben als ein Teil diakonischer Gemeinden. Doch oft sind es ja bestimmte engagierte Kreise, die diakonisch aktiv werden und nicht automatisch die Gesamtgemeinde. Daher überlege ich nun, ob Initiativen und Gruppen nicht auch eine eigene Diakonie-Form darstellen. Nicht immer haben diakonische Initiativen/Gruppen/Arbeitskreise unmittelbaren Gemeindebezug – und man kann sie auch nicht einfach den Basisgemeinschaften zuordnen. Dann wird aus der Siebener- eine Achter-Typologie. Als Liebhaber von Alliterationen könnte ich den Blog-Eintrag dann ja in „Acht Akteure“ umbenennen! ; – ) .MH..

  2. Hallo Herr Horstmann,sie haben schon einige Beispiele von am Gemeinwesen orientierten Gemeinden gegeben, die weit über das diakonische Grundprogramm, wie sie es nennen hinausweisen. Insofern wäre präzisierung interessant.
    Wieso halten Sie den Begriff Gemeindediakonie für normativ?

    Schöne Grüße, K. Daniel

    1. Ich finde es wichtig, in Diskussionen immer sauber zwischen einem deskriptiven Diakonieverständnis (die konkreten Organisationsformen _beschreibend_) und einem normativen Diakonieverständnis (die theologische Substanz von Diakonie _interpretierend_) zu unterscheiden. Ich wage mal zu behaupten: Die Hälfte der Fälle, bei denen man sich über „diakonische Identität“ in die Haare kriegt, geht auf das Durcheinanderbringen (manchmal unbewusst, manchmal auch durchaus bewusst) dieser Perspektiven zurück! In diesem Beitrag geht es mir ausschließlich um die deskriptive Perspektive: Welche konkreten Organisationsformen von „Diakonie“ gibt es (bei uns)? Daher versuche ich an dieser Stelle keine Formulierungen zu verwenden, die einen normativen Klang haben. Begriffe, die auf ein Konzept zielen („Gemeindediakonie“, „Unternehmensdiakonie“, „Basisdiakonie“,… aber natürlich auch „Gemeinwesendiakonie“), habe ich daher vermieden. Wenn man nur nach Organisationsformen in der diakonischen Landschaft sucht, wird man „Gemeindediakonie“ nicht finden können; wenn man nach Diakoniekonzepten sucht, natürlich schon.
      Natürlich gibt es etliche Gemeinden, die weit über das (etwas salopp gesagt) „diakonische Grundprogramm“, hinausreichen. Ich glaube, dass es hier sehr viel mehr zu entdecken gibt, als man vielleicht auf den ersten Blick vermutet. Mit dem „Grundprogramm“ wollte ich darauf hinweisen, dass es in jeder Gemeinde bestimmte Elemente gibt, die man als Diakonie bezeichnen kann, die aber oft gar nicht als solche gesehen werden. Gemeinden, die deutlich mehr Diakonisches machen wollen, engagieren sich oft im/für/mit dem Gemeiwnesen (weil’s naheliegt), aber das muss nicht sein. Es gibt Gemeinden mit Selbsthilfegruppen oder mit „Zell-Gruppen“, die sehr stark diakonisch ausgerichtet sind, dies aber, sinnvoller Weise, im Vorborgenen tun. Also: Gemeinwesenorientierung ist gut, ist aber nicht die einzige Möglichkeit für diakonisches Engagement von Gemeinden.

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